Ein Stolperstein für Israel Rabinowitsch

Am 24. Januar 2011 wurde im Dorf Reetz, das zur Gemeinde Wiesenburg gehört, ein Stolperstein zu Erinnerung an Israel Rabinowitsch gesetzt, der im September 1943 in Auschwitz ermordet wurde.

Die Rede zur Setzung des Steines:

Israel Rabinowitsch
von John Shreve

Israel Rabinowitsch stammte aus der Ukraine und war eines vom 7 oder 8 Kindern von Salomon und Rachel Rabinowitsch. Im August 1914, wurde er als der Soldat der russischen Armee gefangen genommen. Nachdem er vier Jahre in einem Kohlebergwerk in der Lausitz gearbeitet hatte, kam der Kriegsgefangene Rabinowitsch im August 1918 in die Brandtsheide und arbeitete im Sägewerk am Bahnhof Wiesenburg.
Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft im Mai 1921 arbeitete er für den damaligen Reetzer Ortsvorsteher Franz Wernicke. Am 14. Juni 1922 ließ Israel Rabinowitsch sich evangelisch taufen und am Heiligabend desselben Jahres heiratete er seine Anna Schuster, die er bei Wernickes kennengelernt hatte.
In Reetz hatte Israel Rabinowitsch offensichtlich einen guten Ruf. Beschrieben wurde er mit Worten wie interessant, hilfsbereit, unauffällig, lebenslustig. Man erinnerte sich an ihn als einen Mann der gerne einen getrunken hat, der gern tanzte und vor allem gern Karten spielte. Fast jeden Abend saß er in der Gaststätte Galle in der Zerbster Straße und spielte Karten mit seinen Freunden. Er war im Schützenverein und im Radfahrerverein. Sein Wunsch, dem Kriegerverein beizutreten, scheiterte daran, dass er in der falschen Armee gedient hatte.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten galt Israel Rabinowitsch, obwohl getauft, nach den rassischen Vorstellungen der neuen Machthaber als Jude, und er war auch noch Ausländer. Im Jahr zuvor hatte er zwar die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt, aber das war nun erledigt. Manche erinnerten sich, dass Israel Rabinowitsch versucht hatte, sich als „guter Deutscher“ zu geben. Es war ein verzweifelter Versuch, der zum Scheitern verurteilt war. Er meldete seinen Sohn Werner bei dem Jungvolk, seine Tochter Klara bei dem Bund deutscher Mädel an. Sie wurden abgewiesen.
Ansonsten änderte sich zunächst nicht allzu viel für die Familie Rabinowitsch. 1934 erhielt die kinderreiche Familie von der NS-Wohlfahrt zu Weihnachten noch Hasen. Weiterhin nahm Israel Rabinowitsch am Vereinsleben in Reetz teil. Er leistete Handdienste, wenn er an der Reihe war, und diente bei Beerdigungen. „Israel“, wie die Reetzer ihn nannten, war als „der Russe“ bekannt, nicht als „der Jude“.
Doch mit der Verkündung der sogenannten „Nürnberger Gesetze“ 1935 änderte sich die Lage von Israel Rabinowitsch und seiner Familie grundlegend. Nun musste er dem Amtsvorsteher Richard „Erdmann“ Senst täglich seine Anwesenheit melden. Es wurde dem Ehepaar Rabinowitsch nahegelegt, sich scheiden zu lassen, was sie ablehnten. Seine Kinder galten nun als „Halbjuden“, mit allen Nachtteilen.
Ab 1938 wurde die Ausgrenzung der Familie Rabinowitsch noch deutlicher. Eines Abends saß Israel Rabinowitsch in der Gaststätte Galle, und spielte Skat. Gegen 10 Uhr betrat der Ortsgruppenleiter der NSDAP in Reetzerhütten das Lokal mit den Worten: „Wer spielt hier noch mit Juden?“ Israel Rabinowitsch stand auf und verließ das Lokal. Dem Gastwirt Galle wurde von der Polizei mitgeteilt, dass der Jude Rabinowitsch in Zukunft weder sein Lokal noch irgendein anderes betreten durfte. Er wurde auch aus allen Vereinen ausgeschlossen.
Seit seiner Hochzeit arbeitete Rabinowitsch als Maschinist im Sägewerk und in der Ziegelei von Richard Senst. Anna Rabinowitsch arbeitete weiterhin als Saisonarbeiterin bei Franz Wernicke. Senst versuchte, die Familie dazu zu bewegen, auszuwandern, nach Brasilien oder nach Skandinavien, und bot seine Hilfe an. Das Ehepaar Rabinowitsch lehnte jedoch ab.
Im April 1939 wurde Israel Rabinowitsch vom Landrat des Kreises mitgeteilt, dass seine Aufenthaltserlaubnis mit dem 31. März erlosch. Es wurde mit seiner zwangsweisen Abschiebung aus dem Reich gedroht, falls er das Land nicht bis zum 1. September verlassen hätte. Nun bemühte er sich selber um die Auswanderung. Das war nicht mehr möglich. Dann kam der Krieg.
In den Kriegsjahren erhielt Anna Rabinowitsch weder Lebensmittel- noch Kleiderkarten. Israel Rabinowitsch verdiente auf Grund der höheren Abgaben für Juden weniger als andere, die die gleiche Arbeit leisteten.
Ab dem 15. September 1941 mußten alle Juden vom 6. Lebensjahr an sich mit einem gelben sogenannten „Judenstern“ kennzeichnen. Israel Rabinowitsch versuchte einen eigenen Stern zu basteln, aber seine Frau sagte ihm, wenn er einen Stern tragen sollte, dann sollten die Behörden ihm einen geben. Daraufhin bemühte sich Rabinowitsch tatsächlich um einen Judenstern. Die Bezirksstelle Brandenburg-Pommern der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland teilte ihm mit, dass er keinen Stern tragen müsse. Er lebe in einer sogenannten „privilegierten Mischehe“.
Die ersten beiden Male, als Israel Rabinowitsch von der Gestapo in Potsdam vorgeladen wurde, setzte sich sein Arbeitgeber Richard Senst mit den Behörden in Verbindung, um Rabinowitsch zu schützen, sprich, er fuhr zu der Gestapozentrale nach Berlin.
Die Deportationen der Juden aus Deutschland in die Todeslager liefen schon als am 8. März 1943 Israel Rabinowitsch von der Gestapo Potsdam schriftlich aufgefordert wurde, sich wegen einer „persönlichen Angelegenheit“ bei der Gestapo-Dienststelle in Potsdam, Priesterstraße 13, zu melden. Diesmal lehnte er das Angebot von Richard Senst ab, sich für ihn einzusetzen. Er war überzeugt, es ginge um seinen Sohn Werner, der in Wörlitz arbeitete und unter polizeilicher Aufsicht stand. Kurz zuvor hatte die Gestapo bei Anna Rabinowitsch wegen des Sohnes vorgesprochen.
Israel Rabinowitsch fuhr also nach Potsdam und kehrte nie nach Reetz zurück.
Nach etwa vier Wochen erhielt Anna Rabinowitsch eine Karte von ihrem Mann. Dreimal fuhr Werner Rabinowitsch nach Potsdam, um seinen Vater zu besuchen, das erste Mal mit seiner Schwester Klara. Ende Mai fuhr er ein viertes Mal nach Potsdam, nur um zu erfahren, dass der Vater nicht mehr dort war.
Wieder versuchte Richard Senst sich für Israel Rabinowitsch bei der Gestapo einzusetzen, diesmal erfolglos. Ihm wurde damit gedroht: setze er sich weiter für den Juden ein, verschwände auch er.
Die Familie erhielt bald eine Karte aus Auschwitz. Es hieß, es gehe ihm gut. Sie konnten nicht wissen, was Auschwitz bedeutete.
Anfang Oktober 1943 erhielt Anna Rabinowitsch eine Nachricht von der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz. Ihr Mann sei am 24. September im dem Krankenhaus in Auschwitz, Kasernenstrasse „an den Folgen von Herzschwäche bei Darmkatarrh“ gestorben. Die Leiche sei am 18. September „im staatlichen Krematorium eingeäschert“ worden. Mit Sicherheit starb Israel Rabinowitsch nicht friedlich in einem Krankenhaus. Zur der Zeit verbrannten die vier Krematorien von Auschwitz-Birkenau zusammen mit dem Krematorium im Stammlager täglich 4756 Leichen.
Geschichte ist aber nie so einfach, nie so schwarz-weiß wie sie auf dem ersten Blick erscheint. Richard Senst, der soviel für Israel Rabinowitsch getan hatte und weiterhin der Familie half, war seit dem 1. Juli 1941 Mitglied der nationalsozialistischen Partei. Nach der Nachricht aus Auschwitz arbeitete Anna Rabinowitsch weiter bei Franz Wernicke, der auch sonst der Familie half. Tochter Elli erzählte mir: „Wir konnten dort Mittag essen gehen. Sie haben uns wirklich als Menschen geholfen.“ Franz Wernicke war seit 1933 Mitglied der NSDAP und Ortsbauernführer.
Israels Sohn Alfred erzählte mir wie der Dorflehrer, Hermann Gottschalk, die Hand über die Rabinowitsch-Kinder hielt. Hermann Gottschalk war Ortsgruppenleiter der NSDAP. Diese menschlichen Gesten entlasten diese Männer natürlich nicht von der Schuld, die sie auf sich luden, indem sie das menschenverachtende System stützten und dadurch die Verbrechen ermöglichten, und dennoch zeigten sie Menschlichkeit. Das taten auch andere Reetzer.
Tochter Elli erinnerte sich: „Die Menschen hatten Mitgefühl mit uns. Zu uns öffentlich waren sie freundlich, und verschiedene haben uns Kleidungsstücke geschenkt.
Sohn Werner sagte: „Der Mehrheit der Reetzer Bevölkerung haben wir zu danken, dass er erst ‚43 verhaftet wurde. Daß man sich nicht gewagt hat ihn abzuholen, sondern mit so einer einfachen Karte nach Potsdam lockte.“
Eines Mannes wie Israel Rabinowitsch zu gedenken ist wichtig und macht Sinn, denn man lernt aus seiner Geschichte, was Menschenrechte bedeuten, wie elementar sie sind: dass ein Mensch, solange er die Rechte eines anderen nicht beschneidet, das Recht hat, zu leben wie er will, zu denken wie er will und zu sein, wer er ist, egal wer die politische Macht gerade ausübt.
In diesem Teil Deutschlands folgte auf die Diktatur der Nationalsozialisten leider die Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei. Trotz allem Gerede vom „Antifaschismus“ lernte der Staat, der hier entstand, nicht aus der Geschichte von Menschen wie Israel Rabinowitsch. Die Rechte von Menschen wurden zwar nicht mehr aus sogenannten rassischen, sondern aus ideologischen Gründen missachtet. Hätte Israel Rabinowitsch den Krieg überlebt, wäre er vielleicht als Christ benachteiligt gewesen. Natürlich gab es in der DDR keine Vernichtungslager, aber die Einstellung, dass das Individuum sich einer sich selbst rechtfertigenden Partei bzw. Staat unterzuordnen hat, war dieselbe.
In der DDR fand keine offene Auseinandersetzung mit dem Holocaust statt. Das Gedenken an dem Holocaust stand hinter dem an den verfolgten Kommunisten. In den ersten Jahren der DDR wurden jüdische Gemeindevertreter verhört, ihre Büros durchsucht und öffentliche Veranstaltungen verboten. „Genossen jüdischer Abstammung“ wurden durchleuchtet, jeder zehnte verhaftet. Ein Viertel aller Mitglieder der jüdischen Gemeinden der DDR flüchtete in den Westen. Die DDR unterstützte auch tatkräftig die Feinde des Staates Israel. Die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus wurden aus der öffentlichen Erinnerung verdrängt. Diese Verdrängung ist einer der Gründe, warum gerade in den neuen Bundesländern der Rechtradikalismus auf besonders fruchtbaren Boden gefallen ist. Erst im April 1990 bat Sabine Bergmann-Pohl, die Präsidentin der ersten freigewählten Volkskammer der DDR, „das Volk in Israel um Verzeihung für die Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945…
Ich kannte Reetz und viele Reetzer mehr als 15 Jahre, bevor ich den Namen Israel Rabinowitsch das erste Mal hörte, und das war von Herrn Werner Brehmer, einem Christen und Gegner der SED. Meine Frau, in Reetz aufgewachsen, kannte zwar den Namen Rabinowitsch, doch dass der Reetzer Israel Rabinowitsch in Auschwitz ermordet wurde, erfuhr sie erst durch mich. Andere Reetzer ihrer Generation haben mir ähnliches erzählt. In Reetz wurde Israel Rabinowitschs nur in der Kirche gedacht und dieses Gedenken wurde von ehemaligen Wehrmachtsoldaten initiiert und durchgeführt. Das hier ist das erste öffentliche Gedenken.
Nach zwei Diktaturen in Deutschland können wir hier als freie Menschen stehen und eines Menschen gedenken, der nur ein normales, friedliches Leben führen wollte. Wollen wir Israel Rabinowitsch und andere Opfer der nationalsozialistischen Diktatur ehren, wollen wir aber auch die Opfer der sozialistischen Diktatur ehren, müssen wir entschlossen sein, uns gegen alle Bedrohungen unserer demokratischen Gesellschaft zu wehren, kommen sie von Rechts oder kommen sie von Links.
Das Prinzip ist so einfach wie alt und stets aktuell. Im Lukas-Evangelium lesen wir: „Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt sein wollt.“ Im Artikel 1 unserer Verfassung heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Welch ein Fortschritt!

 

Bericht aus der Märkischen Allgemeine vom 24. Januar 2012

Ein Stein zum Erinnern

In Reetz wird ab sofort des 1943 ermordeten Israel Rabinowitsch gedacht

REETZ - Vor dem Grundstück an der Belziger Straße 6 hat Gunter Demnig gestern Vormittag unter großer Anteilnahme einen 10 x 10 x 10 Zentimeter großen Betonstein mit beschrifteter Messingplatte im Gehweg eingelassen. Mit diesem sogenannten Stolperstein wird an Israel Rabinowitsch erinnert, der dort einmal gewohnt hat. Er ist am 18. September 1943 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden.

Zum zweiten Mal ist der Kölner Projektkünstler damit von Menschen aus dem Hohen Fläming gebeten worden, auf seine Art das Schicksal eines Verfolgten des Nazi-Regimes zu würdigen. Bundesweit sind nach seinen Angaben in den vergangenen zwölf Jahren mehr als 30 000 Steine an rund 700 Orten zu diesem Zweck gesetzt worden, wobei er sich das exklusive Prozedere allein vorbehält.

Bei der gestrigen Veranstaltung waren neben den Nachfahren des Geehrten um den noch lebenden Sohn Willi Rabinowitsch die Bürgermeisterin der Gemeinde Wiesenburg, Barbara Klembt (Die Linke), und Ortsvorsteherin Marion Gante anwesend. Die parlamentarischen Gremien hatten zuvor ihr positives Votum für das Vorhaben abgegeben. Die kurze Ansprache hielt John Shreve. In seiner Chronik hat er dem Leben von Israel Rabinowitsch ein Kapitel gewidmet.

Jener war 1893 in der Ukraine geboren worden. Als Kriegsgefangener kam er über die Lausitz in den Fläming, war erst Arbeiter im Sägewerk von Franz Wernicke, wo er seine Ehefrau Anne kennen lernte, und später bei Richard Senst. Zwar habe er sich selbst nach der evangelischen Taufe vergeblich versucht als Deutscher zu etablieren. Dennoch sei „der Russe“ im Ort bis Ende der 30er-Jahre geachtet gewesen und gern gesehen beim Kartenspiel. Wegen seiner jüdischen Abstammung wäre er später jedoch mehr denn je ausgegrenzt worden, berichtete der Heimatforscher. Nicht zuletzt sein Arbeitgeber, obwohl NSDAP-Mitglied und deshalb nach Auffassung von John Shreve wie viele andere Bürger im Ort durchaus mit Schuld, habe zuweilen doch schützend die Hand über den Angestellten gehalten. So hätte es sich die Gestapo nicht getraut, ihn direkt abzuholen. Vielmehr bedurfte es am 8. März 1943 einer Vorladung nach Potsdam. Von dem Termin kehrte der seinerzeit 50-Jährige nicht mehr zurück, sondern ist sechs Monate später im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden. Er hinterließ seine Frau mit fünf Kindern.

Enkel Sieghard Rabinowitsch aus Wiesenburg ist als Lokalpolitiker für die Linkspartei aktiv und hat die Ehrung – Kostenpunkt: 120 Euro – maßgeblich auf den Weg gebracht. Mit dem Stolperstein findet – abgesehen von ein paar Andachten unter dem Dach der Kirche – nunmehr das erste öffentliche Gedenken statt, stellte John Shreve schließlich kritisch fest. Zu Zeiten der DDR war trotz antifaschistischer Propaganda diese Geschichte vor Ort offenkundig verdrängt worden. Der gebürtige Amerikaner, dessen Ehefrau Christiane aus dem 600-Einwohner-Dorf stammt, mahnte deshalb für die Zukunft die Einhaltung der Menschenwürde an. (Von René Gaffron)