Geschichte des Flämings im 20. Jahrhundert
Biographien aus dem Fläming
Fotos:
Reetz damals
Reetz heute
die Reetzer Kirche
Kirchen des ehemaligen Kreises Zauch-Belzig
Ein Stolperstein für Israel Rabinowitsch
Am 12. Februar 1939 starb der letzte Schloßherr von Schmerwitz, Baron Carl-Eduard Brandt von Lindau im Alter von 65 Jahren. Mit seinem Ableben erlosch der Name Brandt von Lindau in der Brandtsheide.
Brandt von Lindau wurde am 11. Juni 1873 in Schmerwitz geboren, als Sohn von Benno Friedrich Brandt von Lindau und seiner Frau Therese Maria von Hobe. Der Junge, den man „Charly“ nannte, hatte eine unbeschwerte Kindheit und wuchs mit Hunden und Ponys auf, hatte sogar einen Waschbären. Später besuchte er die Ritterakademie in Brandenburg.
Er war Fünfzehn als sein Vater starb. Er kam in das Internat Lähn in Schlesien, wo er mit den Lehrern nicht zurecht kam und sonst unglücklich war. Nach der Schulzeit trat er als Fahnenjunker in das Kürassier-Regiment Nr. 6. ein.
Als seine Mutter 1896 starb, übernahm Carl Brandt von Lindau den Schmerwitzer Familienbesitz und bewirtschaftete die große Forstwirtschaft sowie das Rittergut Schmerwitz, das er allerdings 1910 an den Landwirt Kühtz verpachtete.
Sein Onkel und Vormund, General Hans von Hobe, war Militärattaché in der Türkei. Brandt von Lindau besuchte ihn häufig in Konstantinopel. Nachdem der General aus dem Dienst ausschied, lebten die beiden auf Schoß Schmerwitz und reisten viel zusammen. Besonders gern hielten sie sich in Monte Carlo auf.
Am 11. Oktober 1090, im Alter von 36 Jahren, heiratete Carl Brandt von Lindau Cläre von Sprenge aus Militsch, geschiedene von Tschirschky. Sie hatten eine Tochter, Christfriede.
Brandt von Lindau liebte den Pferdesport, unterhielt einen großen Rennstall und war häufig auf Rennplätzen, in Karlshorst und Hoppegarten oder fuhr zu den Rennwochen in Doberan und Harzburg. Er liebte Rennautos, spielte Tennis und fuhr einen Sport-Bob in St. Moritz. Er liebte auch die Jagd und ließ ein Jadgschloß bauen. Ehe es aber eingeweiht werden konnte, brach der Erste Weltkrieg aus.
Carl Brandt von Lindau stellte sich der Heeresverwaltung zur Verfügung und wurde Kompanieführer im 3. Landsturm-Batallion in Potsdam, mußte aber nach einer Verwundung schon 1915 aus dem Dienst ausscheiden.
Nach dem Krieg kaufte er einen Bauernhof am Chiemsee. In Bayern lernte der Baron schon Anfang der zwanziger Jahre den jungen österreichischen Politiker Adolf Hitler kennen und war zufällig in München zur Zeit des gescheiterten Putsch vom November 1923 Sieben Jahre später trat Brandt von Lindau in die NSDAP ein und wurde bald Ortsgruppenführer in Wiesenburg. Er förderte die SA und baute einen Reitersturm auf.
Schon Anfang 1934 aber zwang eine Krankheit Brandt von Lindau dazu, vom Amt des Ortsgruppenleiters zurückzutreten.
In einem Nachruf in der Belzig-Reetz-Wiesenburger Zeitung drei Tage nach seinem Tode hieß es, der „Parteigenosse Baron Brandt von Lindau [war] ein gerechter, hilfsbereiter Mann, ein getreuer Kämpfer für das Dritte Reich.“ Er bliebe, „bis in die letzten Tage seines durch den Kampf gesegneten Lebens...mit der Partei und den alten Kameraden der Kampfzeit treu verbunden“ Er wurde im Schloßpark von Schmerwitz begraben.
Der letzte Schloßherr von Schmerwitz starb wenige Monate vor Ausbruch des Krieges, der von seinem „Führer“ angestiftet wurde. Als der Krieg zu Ende ging, wurde das Schloß, das schon während des Krieges von der Deutschen Reichspost in Beschlag genommen worden war, von Soldaten der sowjetischen Armee geplündert. Seine Witwe wurde angeschossen und starb an der Verletzung. Die Gruft der Schloßherren wurde geschändet. Die Toten wurden exhumiert und auf dem Dorffriedhof von Schlamau verscharrt. Es war das unrühmliche Ende der Geschichte der Familie Brandt von Lindau in der Brandtsheide. Nach dem Zusammenbruch der DDR ließ die Tochter des Barons, Christriede von Drabich-Waechter, das Grab in Schlamau herrichten und neben den geretteten Grabsteinen ihrer Großeltern einen Stein aufstellen mit der Inschrift: „Brandt von Lindau 1350-1945“.
Fünfunddreißig Jahre war Hermann Gottschalk Hauptlehrer in Reetz. Kein anderer Mensch hatte im 20. Jahrhundert einen so großen Einfluß auf die Reetzer. Sein Einfluß beruhte aber nicht nur auf seine Stellung als Lehrer. Gottschalk diente auch viele Jahre als Küster – unter fünf Pfarrern – er leitete den Chor, war Gemeinderat, Festredner und schließlich Ortsgruppenleiter der NSDAP.
Hermann Gottschalk wurde am 16. Juli 1885 in Loegow, Kreis Ruppin geboren. Seit dem Herbst 1900 besuchte er die Präparanden-Anstalt in Kyritz, dann ab dem Herbst 1904 das Königliche-Evangelische Schullehrer-Seminar in Kyritz. Seine Ausbildung wurde durch seinen Militärdienst unterbrochen. Vom 1. Oktober 1905 bis zum 30. September 1906 diente er in der 8. Kompagnie des Infanterie-Regiments Großherzog Friedrich Franz II von Mecklenburg-Schwerin (4. Brandenburgisches) Nr. 4. Er quittierte den Dienst als Unteroffizier. Seine zweite Lehrer-Prüfung bestand er am 29. Oktober 1908. Danach erhielt er seine erste Anstellung in Grubo. 1910 bekam er die Stelle als Schulleiter in Reetz und heiratete Margarete Dossmann aus Neuehütten.
Von Anfang an war Gottschalk als Festredner gefragt. Im März 1913 bei der Gedenkfeier zum Befreiungskrieg gegen Napoleon hielt der Herr Lehrer „eine zündende Ansprache“. Später im selben Jahr im Anschluß eines Kinderfestes gedachte er in einer Rede „unseres allgeliebten Kaisers“.
Bald mußte er seine Arbeit als Lehrer unterbrechen. Im August 1914 wurde der Reservist Gottschalk erneut eingezogen.
Nach dem Krieg trat der zurückgekehrte Lehrer in die SPD. Das lag womöglich an der Atmosphäre der Nachkriegszeit. Schon vor dem Krieg hatte Reetz im Vergleich zu der restlichen Brandtsheide überdurchschnittlich viele SPD-Wähler. Das setzte sich nach dem Krieg fort. Bei den ersten Nachkriegswahlen stimmten nicht weniger als zwei Drittel der Reetzer sozialdemokratisch.
In dem als unsicher empfundenen ersten Jahr nach dem Ende des Krieges regte die preußische Regierung die Schaffung von Einwohnerwehren an, was in mehreren Orten des Umgebung auch geschah. Am 19. September 1919 hielt Reichswehr Hauptmann von Ledebur, der vom Oberpräsidenten des Landes Brandenburg als Berater eingesetzt wurde, einen Vortrag in Reetz. Daraufhin wurde eine Einwohnerwehr in Reetz und Mahlsdorf mit 62 Mitgliedern gegründet. Hermann Gottschalk wurde der Leiter.
Nach dem Krieg hat es einen Zwist zwischen Pfarrer und Küster gegeben, dessen Hintergrund heute nicht mehr zu ermitteln ist. Jedenfalls weigerte Gottschalk mehrfach den Dienst als Kantor. Das Verhältnis klärte sich aber und im Dezember 1922, in der gleichen Sitzung des Gemeindekirchenrates in der der neue Pfarrer Karl Manoury vorgestellt wurde, ernannte man Hermann Gottschalk zum „Kirchenmeister“. Das neu geschaffene Amt sollte den Pfarrer von äußeren Geschäften entlasten, damit er sich mehr seinem eigentlichen Beruf, der Seelsorge, widmen konnte.
Ältere Reetzer erinnern sich an Hermann Gottschalk als einen strengen aber guten Lehrer.
Martha Fricke: „Wenn der morgens in die Klasse kam und sich ans Fenster stellte und seine Brille putzte, dann hat sich jeder schon zusammengenommen. Der war streng, aber gelernt haben wir bei dem.“
Alfred Wernicke: „Er war ein Mensch, der streng war, aber gerecht. Damals hat es noch Prügel gegeben. Wenn die Jungs was ausgefressen haben, dann hat er gesagt, ‘Gehmal raus‘ - da war ein Haselnußstock - ‘die Röhre kannst du selber aussuchen.‘ Die dünnen taten mehr weh, aber die dicken machten Blutergüsse. Da waren noch Rowdys dabei."
Alle erinnern sich auch, daß ihr Lehrer gern einen getrunken hatte.
Elli Kühne: „ Wenn er abends einen getrunken hat, dann stand er da morgens und sagte, ‘Kinder, wieder hat er mächtig eins getrunken.‘"
Hermann Gottschalk war ein überzeugter Dorflehrer und schlug mehrere Angebote aus zu größeren Schulen, wo er mehr verdient hätte, zu wechseln. Um die Ausbildung seiner Töchter zu finanzieren, führte er auch nebenbei die Sparkasse, verstand es aber diese Aufgabe, mit seinem richtigen Beruf zu verbinden.
Helene Friedrich: „Es mußte damals alles mit der Hand in seinen Büchern zusammengerechnet werden. Der mußte auch einen Abschluß machen. Dann hat er uns die Zahlen von den Sparkassenbüchern, was er ausgezahlt hat, an die Tafel geschrieben, das haben wir nebenbei auch noch zu Hause ausgerechnet, aber bloß die besten. Und dadurch hat man mächtig rechnen gelernt."
Wie vor dem Kriege war Hermann Gottschalk ein gefragter Redner. Ob beim Jubiläum des Sportvereins, des Kriegervereins oder der Einweihung des Kriegerdenkmals durfte der Hauptlehrer das Wort ergreifen.
Am 30. Januar 1933 wehte die Hakenkreuzfahne zum ersten Mal in Reetz vom Giebel der Schule. Lehrer Gottschalk stand am Pult, als zwei junge Männer in SA-Uniform das Klassenzimmer betraten und "Heil Hitler" riefen. Sie sagten, sie hätten ihre Fahne mitgebracht und Herr Gottschalk möge die alte republikanische Fahne herunterreißen und ihre hissen. Der Lehrer, der Sozialdemokrat war und noch nicht von der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler gehört hatte, erklärte, er wüßte von nichts und er mache das nicht. Das müssen sie selber tun. "Tun Sie, was Sie nicht lassen können", soll er gesagt haben. Daraufhin holten die beiden von Frau Gottschalk den Schlüssel zum Dachboden und hißten ihre Fahne.
Wie alle Lehrer in Deutschland stand Hermann Gottschalk vor einem verhängnisvollen Dilemma. Er mußte entweder seinen Beruf an den Nagel hängen oder sich mit den neuen Machthabern arrangieren. Von Anfang an setzte das nationalsozialistische Regime die Lehrer unter Druck. Wollte man seinen Beruf weiter ausüben, wurde man genötigt in den Nationalsozialistische Lehrerbund einzutreten. Dieser Organisation trat Hermann Gottschalk am 11. April 1933 bei. Wenige Wochen später, am 5. Mai, wurde er, wie auch der Gemeindevorsteher Franz Wernicke, Mitglied der NSDAP.
Lehrer Gottschalk wurde Schulungsleiter des NSDAP-Stützpunktes Reetzerhütten, zu dem die Parteigenossen in Reetz noch gehörten. Als Reetz im Februar 1935 eigenständiger Stützpunkt wurde, wurde ausgerechnet der ehemalige Sozialdemokrat Gottschalk Stützpunktleiter und nach einer Reorganisation der Parteistruktur ab 1938 Ortsgruppenleiter. Er war auch weiterhin Schulungsleiter. Margarete Gottschalk übernahm die Leitung der etwa 120 Mitglieder starken Nationalsozialistischen Frauenschaft
Pfarrer Rudolf Röhr schrieb in seinen Erinnerungen:
„Die Politik bemächtigte sich der Schulen und setzte die Lehrer besonders auf den Dörfern als geeignete Sturm- und Rammböcke für die neue Weltanschauung ein. Die Lehrer kamen in große Gewissenskonflikte, verloren ihre Anstellung oder wurden die Könige und Tyrannen ihrer Dörfer. Bekannt dafür wurden die Lehrer in Schlamau, Reetz und Benken.“
Bald vertrat Hermann Gottschalk öffentlich die Politik der NSDAP scheinbar ohne Vorbehalte. Im Juli 1934, z.B. geißelte er den Versailler Friedensvertrag als „Schandfrieden“. Über seine Reden wurden in dem Zauch-Belziger Kreisblatt berichtet:
"Eingehend erläuterte der Redner mit wieviel Haß und Lüge uns dieser ‘Frieden‘ diktiert wurde. Wie man unser deutsches Vaterland zerstückelte und wie wir bezahlen mußten. Nur unser Führer gebot hier Halt und fordert Deutschlands Gleichberechtigung und Ehre. Um dies zu erreichen, muß das ganze deutsche Volk hinter unserem Führer stehen. Mit dreifachem Sieg-Heil schloß der Stützpunktleiter den Sprechabend." (3.7.1939)
Zum Kommunismus sagte er im November 1935:
"Die internationale Zersetzungspolitik des Kommunismus verteile sich über die ganze Welt. Der Nationalsozialismus dagegen sehe nur die Interessen seines eigenen Volkes. Der Stützpunktleiter schilderte ausführlich, mit welchen furchtbaren Mitteln der Kommunismus seine Ziele unter allen Völkern anstrebe. Zahllose Einzel- und Massenmorde, Brände, Terror und Gottlosigkeit sowie die trostlosen Zustände im eigenen Lande kennzeichnen den Kommunismus in Sowjetrußland. Der Nationalsozialismus in Deutschland dagegen baue sich auf Zucht und Ordnung auf. Er hat die Arbeitslosigkeit beseitigt, geregelte Verhältnisse geschaffen und dem deutschen Volk seine Einigkeit und Freiheit wiedergegeben. Dem Führer, so schloß der Redner sein Referat, habe das deutsche Volk dafür zu danken. Denn Deutschland ist eine Insel der Ordnung." (27.11.1935)
Und immer wieder predigte Hermann Gottschalk den „Führer“-Kult. Im März 1935, z.B.: "Die Welt erkenne bereits die Kraft und Genialität des deutschen Volkes an. Wie der Führer zu der Nation, so müsse die ganze Nation geschlossen hinter ihm stehen. Jeder Deutsche muß den Glauben an den Führer haben." (5.3.1935) Oder im April desselben Jahres: "In Liebe und Treue wollen wir alle hinter dem Führer stehen und unsere Treue in der Tat beweisen." (27.4.1935)
Im November 1935 besuchten die Schulkinder aus Reetz, Reetzerhütten und Reppinichen die „Rassenpolitische Wanderausstellung des Gaus Kurmark der NSDAP“, die in Reetz zu sehen war. Zu diesem Anlaß warnte Hermann Gottschalk vor “erbkranken Nachwuchs und Mischung mit fremden Rassen.“ (11.11.1935)
Schon um April 1935 hatte er Verständnis dafür gezeigt, daß immer mehr Ortschaften „den Besuch oder Aufenthalt von Juden“ ablehnen. (21.8.1935) Am Ortsrand von Reetz standen allerdings keine Schilder, die verkündeten, Juden wären in Reetz unerwünscht.
Mehr noch, es lebten in Reetz, nach den rassischen Vorstellungen der Nationalsozialisten, ein Jude und fünf „Halbjuden“. Den evangelisch getauften Israel Rabinowitsch kannte Hermann Gottschalk gut. Seine Kinder gingen bei ihm in die Schule. Nach ihrer eigenen Aussagen erlitten sie keine Nachteile unter Lehrer Gottschalk.
Als Ortsgruppenleiter war Hermann Gottschalk auch "Hoheitsträger" der NSDAP in seinem Ort. Ihm wurde von der NDSAP "das politische Hoheitsrecht" übertragen. Er hatte laut „Organisationsbuch der NSDAP“ für eine "ausreichende und weltanschaulich einwandfreie Schulung der Politischen Leiter und Parteimitglieder zu sorgen." Er war aber auch für "die gesamte politische Lage" in seinem "Hoheitsbereich" zuständig und hatte dadurch auch Befugnisse gegenüber Nichtmitgliedern. Der Ortsgruppenleiter hatte die Aufgabe, "durch geeignete Veranstaltungen die Bevölkerung nationalsozialistisch auszurichten." Er war auch der Aufpasser im Ort und hatte "sich durch die der Gemeindevertretung angehörenden Politischen Leiter seines Stabes überkommunale Vorhaben und Beschlüsse Bericht erstatten zu lassen und nötigenfalls an den Beauftragten der Partei zu melden." Weiter hatte er Listen über die "politische Zuverlässigkeit" der Bewohner zu führen.
Den am 1. September 1939 vom Zaun gebrochenen der Krieg bezeichnete der Ortsgruppenleiter, entsprechend der Propaganda des Regimes, als „Freiheitskampf“ bezeichnete. Der Krieg stellte ihn vor völlig neuen Herausforderungen.
Fast zwei Jahre blieb Reetz von Todesmeldungen von der Front verschont. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion kamen sie dafür Schlag auf Schlag. In kaum mehr als einem Monat verlor die Wehrmacht mehr Soldaten als im ganzen Westfeldzug. Die ersten Gefallenen aus Reetz hatten zu seinen besten Schülern gehört und laut Zeugenaussagen hat ihn die Nachricht ihres Todes schwer getroffen. Dem Ortsgruppenleiter fiel die unangenehme Aufgabe zu, die Familien der Gefallenen persönlichen zu benachrichtigen.
Die Kriegsjahre waren für die Reetzer Schule schwierige Jahre, schwierig für den Hauptlehrer Gottschalk, aber auch für die Schüler, die zeitweise unter Ausnahmebedingungen lernen mußten. Mehrmals wurden der Schule neue Lehrer zugeteilt, die, weil schon zur Wehrmacht eingezogen, nie erschienen.
Die Last fiel auf den inzwischen 56jährigen Hermann Gottschalk, der bis zu 70 Kinder gleichzeitig unterrichten mußte. Ab November 1942 kamen die Kinder aus Reetzerhütten mit Lehrer Ziegener nach Reetz. Die zwei Lehrer hatten 165 Kinder unter ihrer Aufsicht.
Um den kriegsbedingten Mangel an männlichen Arbeitskräften auszugleichen, ging auch Lehrer Gottschalk auf den Feldern arbeiten. Manchmal ließ er eine Stunde ausfallen und ging mit allen Kindern aufs Feld, um bei der Ernte zu helfen.
Januar 1945 trafen 152 Flüchtlinge, aus dem von alliierten Bomben zerstörten Düren bei Köln, in Reetz ein. Dem Ortsgruppenleiter Hermann Gottschalk fiel die Aufgabe zu, Unterkunft für die "Umquartierten" zu organisieren. Mit dem Fortschreiten der Offensive der Roten Armee kamen auch Flüchtlinge aus dem Osten. Nun hießen sie "evakuierte Volksgenossen". Es kamen 185 Männer, Frauen und Kinder aus den Ostgebieten.
Die Front rückte immer näher. Werner Friedrich erinnert sich:
"Die Schule haben wir ausgeräumt. Da sollte ein Lazarett rein. Wo jetzt das Feuerwehrhaus steht, war eine alte Scheune, und da mußten wir die Bänke und alles andere hinein tragen. Der eine Schüler, der hat gelacht und sich gefreut. Da hat Gottschalk gesagt, ‘Das wird traurig, da ist nichts zum Lachen bei.‘“
Werner Rabinowitsch erinnerte sich an dem ersten Tag der Besetzung durch die Rote Armee:
"Am 4. Mai kamen die Russen, um 4 Uhr früh. Um etwa 9 rief mich einer zur Schule und da stand ein Panzer vor der Schule. Die wollten Gottschalk holen und ihn aufhängen. Der war weg, und der Amtsvorsteher hatte sich auch versteckt. Gott sei Dank.“
Nach dem Ende der Kampfhandlungen wurden mehr als 30 Reetzer Männer, vorwiegend aus dem Volkssturm, verhaftet und weggebracht, darunter auch Hermann Gottschalk.
Es dauerte aber nicht allzu lange, bis alle wieder frei kamen, auch der nun ehemalige Ortsgruppenleiter. Schon vor dem Kriegsende hatte seine Familie versucht, ihn zur Flucht zu überreden. Nun bedränge ihn seine Frau erneut und eines Tages fuhr er tatsächlich mit dem Fahrrad davon. Am nächsten Tag war er aber wieder zu Hause. Seine Tochter Ursula Kern erinnert sich an seine Worte: „Ich kann hier nicht weg und wo soll ich hin und ich habe nichts verbrochen.“
Hermann Gottschalk wähnte sich in Sicherheit. Er arbeitete mit der Besatzungsmacht, die ihn zum „Quartalsältesten“ ernannte. Erst am 25. Juni wurde er „bis zur endgültigen Regelung“ als Lehrer entlassen.
Ulla Friedrich erinnert sich an eine Begegnung mit Hermann Gottschalk kurz nach Kriegsende.
"Ich bin zu Adolfs Zeiten noch in die Schule gegangen, und wir wurden von Gottschalk gedrillt, wenn wir ihm auf der Straße begegneten, mit ‘Heil Hitler‘ zu grüßen. Nach ‘45 - die Russen waren schon da - haben wir Herrn Gottschalk auf der Straße gesehen. Er kam auf der anderen Straßenseite. Aus Angst sagten wir, ‘Heil Hitler‘. Herr Gottschalk hat uns herüber gebeten und hat gesagt, ‘Liebe Kinder, es hat sich was geändert. Wenn ihr mich jetzt trefft, braucht ihr nicht mehr "Heil Hitler" zu sagen.‘"
Erneut wurde Hermann Gottschalk verhaftet. Während eines Besuches bei seiner Schwägerin in Wiesenburg klingelten ein Deutsche im Zivil. Sie nahmen ihn mit.
Der herzkranke Gottschalk kam ins Lager Ketschendorf und starb wahrscheinlich im Juni 1946. Erst 1948 erfuhr die Familie von seinem Schicksal und zwar durch einen Neffen von Hermann Gottschalk, ebenfalls ein Lehrer und der auch im Lager Ketschendorf gewesen war.
"Er hat meine Mutter angerufen,“ erinnert sich Ursula Kern, „und hat gesagt, er hätte ganz strenge Anordnung, er dürfte ihr das an sich nicht erzählen, aber mein Vater wäre gestorben und er wäre nackt über irgend einen Zaun geschmissen worden, als er tot war, und er hätte es gesehen. Aber er hat immer zu meiner Mutter gesagt, du darfst das keinem sagen." Hermann Gottschalk wurde 63 Jahre alt.
Margarete Gottschalk mußte das Schulhaus räumen. Sie zog zu ihrer Schwester nach Wiesenburg und später zu ihren Kindern nach Westdeutschland. Jahrelang wollte sie die Hoffnung nicht aufgeben, daß ihr Mann doch noch leben könnte, daß die Meldung von ihrem Neffen falsch wäre. Sie starb 1958. Erst 1961 konnte der Suchdienst des Roten Kreuzes den Tod von Hermann Gottschalk bestätigen.
Karl August Eugen Manoury gehörte zu der siebenten Generation einer Familie von Hugenotten, die 1686 in dem Dorf Groß Ziethen angesiedelt worden war. Diese Herkunft prägte sein Leben. Der Sohn des Vizewachtmeisters beim Dragonerregiment Nr. 2 und Brückenaufsehers August Manoury kam am 2. November 1894 in Schwedt an der Oder zur Welt.
Im Frühjahr 1914 legte Manoury sein Abitur am Schwedter Hohenzollerngymnasium ab und begann schon im Sommersemester mit dem Studium der Theologie in Berlin. Schon am 6. Mai wurde er aufgenommen in die französisch-reformierten Gemeinde zu Berlin und in das Séminaire de Théologie. Aber im Sommer 1914 brach der Krieg aus. Wie so viele andere auch, meldete sich der Student schon am 3. August freiwillig zur Armee. In einem Kavallerieregiment diente er dann in Rußland und wurde zum Unteroffizier befördert. Im Juni 1915 wurde Manoury verwundet und nach seiner Genesung er als nicht mehr „felddienstfähig“ eingestuft. Den Rest des Krieges verbrachte er als Militärbeamter. Nach der Entlassung aus dem Heeresdienst am 14. März 1919 nahm er während des Sommersemesters das Theologiestudium wieder auf. Er besuchte auch religionsphilosophische, historisch-heimatkundliche und kirchmusikalische Universitätsversanstaltungen.
Zwischen August 1921 und Juli 1923 war Manoury Leihvikar in Prenzlau. Vom 1. November 1922 bis zu seiner Ordination am 18. Februar 1923 diente er als Hilfsprediger in Bagemühl in der Uckermark. Dort lernte er seine spätere Frau Ilse Karsunky kennen, als sie ihre Eltern in Bagemühl besuchte, wo ihr Vater Lehrer war. Lehrer. Nach weiteren Anstellungen als Hilfsprediger in Annahütte und zuletzt in Niemegk, trat er seine erste Pfarrstelle in Reetz an.
Am 11. Februar 1925 hielt Manoury in der alten Feldsteinkirche in Reetz seine Antrittspredigt zum 1. Korinther 13, 1-3. Am 1. März wurde er in sein Amt eingeführt. Knapp sechs Wochen später, am 16. April, heiratete er. Das Paar hatte drei Kinder, Karl, Enzio und Esther, die alle in Reetz geboren wurden.
Sein Freund Otto Leutke erinnerte an Manourys Zeit in Reetz:
„Meine Erinnerungen an Karl Manoury und unsere Freundschaft gehen zurück bis in das Jahr 1927. Er wohnte in Reetz und ich in Rottstock, etwa 30 Kilometer voneinander entfernt. In der Mitte liegt die Kreisstadt Belzig mit dem Sitz des Superintendenten. Keiner von uns war motorisiert. Sein Pfarrsprengel Reetz war sehr ausgedehnt, und das Fahrrad mußte herhalten. Unser aller Superintendent Brée stellte ihm beim Antritt des Amtes die Größe und Eigenart gerade dieses Pfarrsprengels vor Augen und gab ihm den Rat, recht oft zu ihm zu kommen, wenn Schwierigkeiten entstünden. Karl Manoury brauchte nicht zu kommen; er wurde selbst damit fertig. Die Nöte und Sorgen, das äußere und innere Leben seiner Gemeindemitglieder, all dies blieb ihm nicht fremd. Er verstand es, wirklich zuzuhören, er wurde einer der ihren und konnte ihnen, um mit Luther zu sprechen, ’aufs Maul’ sehen. Er sagte ja oft auch später von sich ’ich bin von geringem Herkommen’, Aber das hinderte ihn nicht im Kreise von Gebildeten und Gelehrten seinen Mann zu stehen.“1
Karl Manoury hatte, wie sein Schwiegersohn Gerhard Tallaszus es ausdrückt, ein paar Seiten, „die im geistlichen Beruf unüblich sind.“ Als junger Mann war er Ringer und auch im Turnverein aktiv. Er interessierte sich sehr fürs Militär. Er war, nach eigenen Angaben „gern Soldat“ gewesen.22 Er hatte auch eine Sammlung alter Waffen. Fragte man Karl Manoury nach seinem Hobby, pflegte er trocken zu sagen, „Ich spiele mit Soldaten.“ Gemeint war seine Sammlung von 35.000 Zinnsoldaten, die er zum Teil mit Hilfe eines Vergrößerungsglases mühevoll selber bemalt hatte. Er war im Zinnsoldatenverein und seine Bücher zum Thema Heraldik und Kostümkunde füllten etwa 10 Meter Regal, und das war nur ein Teil seiner Bibliothek. Manoury las stets drei Bücher gleichzeitig, ein geistliches, einen Krimi und ein Sachbuch, immer abwechselnd, jeweils eine oder anderthalb Stunden.
Wie sein Freund Otto Leutke schrieb, legte Manoury in seinem Studierzimmer in Reetz den Grundstock für seine geschichtliche Bildung, die später in einer Reihe historischer Werke ihren Ausdruck fand.
„Ja, dies Studierzimmer! Da hing das große Schwert. Es war im Oktober 1930. Die Generalkirchenvisitation kam heran. Sein Nachbar, Pfarrer Couard aus Wiesenburg, sprach zu ihm mit Blick auf das Schwert: ’Das können Sie doch nicht hängen lassen! Was soll der Generalsuperintendent Dr. Dibelius dazu sagen?’ Ganz ruhig erwiderte Karl Manoury: ’Er wird es als Sinnbild der kämpfenden Kirche ansehen!’ Und richtig: Kaum betritt Dr. Dibelius das Zimmer - ein Sonnenstrahl fällt auf das Schwert, es leuchtet hell auf, da fällt schon das Wort: ’Wie prächtig! Das Sinnbild der kämpfenden Kirche!’ Der Menschenkenner Manoury hatte recht behalten.“
Eine Schrift aus jenen Jahren zeigt pazifistische und antinationalistische Tendenzen bei Karl Manoury, eine Position, die in der evangelischen Kirche nicht sehr verbreitet war. In einer Besprechung des Buches Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque schrieb Manoury: „Rems [sic] größte nationale Sünde ist die, von der man nicht spricht, die in nationalen Kreisen aber die größte Verstimmung hervorgerufen hat, ich meine das Schleifen von Rekruten...[Die Leser des Buches] wurden deshalb ergriffen, weil sie hier fanden, was sie selber einst empfunden haben: Die sichtbare Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit.“3
Das Dorf Reetz wurde von Manoury aber vermutlich vom Anfang an als zu eng empfunden. Schon im November 1926 hatte er sich vergeblich bei der Wahl des Ersten Pfarrers an der Kloster-Paroisse der Berliner Französischen Kirche beworben.
1931 verließ Karl Manoury Reetz. Am 12. April wurde er um Zweiten Pfarrer an der Kloster-Paroisse der Berliner Französischen Kirche ernannt. Am 28. Mai erhielt er auch die zweite Pfarrstelle an der Französischen Klosterkirche und im selben Monat wurde er Verwalter der französisch-reformierten Gemeinde in Potsdam als Nachfolger von Joseph Chambon. Dort diente er bis zu seiner Pensionierung.
Karl Manoury sprach seine Predigten frei. Seine Tochter Esther Tallaszus erinnert sich, „Als wir Kinder waren, ist er immer durch die Stube gegangen und murmelte vor sich her. Das geschah am Freitag. Da hat er seine Predigt ausgearbeitet“ Wenn er in Berlin predigte, arbeitete er seine Predigt unterwegs in der S-Bahn aus. Otto Leutke schrieb: „Den Prediger Manoury kennzeichnete eine große Nüchternheit und Wirklichkeitsnähe in Sprache und Gedanken. Er wußte, daß der Herr des Himmels, der Gott der Erde und ihrer Menschenkinder sein will.“70
In ihrer Studie Hugenotten unterm Hakenkreuz4, behauptet Ursula Fuhrich-Grubert Karl Manoury wäre Mitglied der“Glaubensbewegung Deutsche Christen“ gewesen. Die „Deutschen Christen“ strebten eine Synthese von evangelischem Christentum und Nationalsozialismus und die Schaffung einer einheitlichen evangelischen und im Sinne der Nationalsozialisten völkischen Nationalkirche an. Fuhrich-Grubert belegt ihre Behauptung durch einen von Manoury als modérateur der Generalversammlung unterzeichneten Brief vom 3. Juli 1933. Der Brief trug auch den Namen vom secrétaire Gustav Humbert. Die Worte des Briefes lassen kaum eine andere Interpretation zu, als daß Karl Manoury zu der Zeit tatsächlich Mitglied der „Glaubensbewegung der Deutschen Christen“ war. Dieser Brief ist allerdings das einzige Beweisstück für eine solche Mitgliedschaft und der einzige erhaltene Durchschlag trägt nicht die Unterschrift von Manoury. Es kann aber durchaus sein, daß Manoury, im Rausch der ersten Wochen nach der Machtergreifung, sich der Glaubensbewegung anschloß. Wenn schon, kann es nur eine kurze Phase gewesen sein. Der Text des Briefes lautet:
„Der Sinn der kirchlichen Neuordnung besteht darin, der Glaubensbewegung der Deutschen Christen den ihr gebührenden massgebenden Einfluss zu sichern. Es genügt also nicht, daß die vorzuschlagenden Herren Mitglieder der NSDAP sind, sie müssen vielmehr den Deutschen Christen angehören, nur dann ist ihnen sinngemäß Einfluss bei der Aufstellung der Listen zu gestatten, der nur so das vom Herrn Kultusminister gewünschte Ziel erreicht und die Kirche mit neuem Geist erfüllt wird.
Die Unterzeichneten sind seit einiger Zeit eingetragene Mitglieder und würden sich freuen, Sie ebenfalls als Mitglieder begrüssen zu können, damit wir eine Gruppe konstituieren und alsdann vielleicht in Beratung treten können. Zur Zeit ist den Pfarrern durch Amtsblatt Nr. 13 vom 1.7. Nr. 4 (Aufruf an die Geistlichen) jede kirchenpolitische Besprechung mit Gemeindemitgliedern strengstens verboten.
Nach unserer Überzeugung können wir nur dann die Interessen unserer Gemeinde wirksam vertreten, wenn wir auf dem Boden der Glaubensbewegung der Deutschen Christen am Neubau der Kirche freudigen Herzens mitarbeiten.“5
Um diesen Brief beurteilen zu können, muß man die Lage der Kirche Ende Juni/Anfang Juli 1933 betrachten. Es gab nicht wenige in der evangelischen Kirche, die eine Kirchenreform befürworteten, nicht nur die „Deutschen Christen“. Viele aber sahen in den Forderungen der „Deutschen Christen“ jedoch eine Bedrohung der in den Jahren der Republik gewonnenen Autonomie.
Der preußische Kultusminister Bernhard Rust hatte am 24. Juni den Nationalsozialisten und „Deutschen Christen“ August Jäger als Staatskommissar für alle preußische Landeskirchen eingesetzt. Jäger trat sein Amt gegen Mittag an. Schon um 19 Uhr trat der erst seit dem 29.Mai amtierende und dem neuen Regime nicht genehme Reichsbischof Friedrich von Bodelschwingh aus Protest gegen die staatliche Einmischung in der Kirche zurück.
Jägers erklärtes Ziel war die radikale politische Gleichschaltung der evangelischen Kirche. Dieser staatliche Eingriff in die Autonomie der Kirche rief bei vielen große Beersorgnis hervor, auch bei manchen „Deutschen Christen“. Es bildete sich eine Front, die sich zur Wehr setzte, bestehend aus dem Oberkirchenrat, den Generalsuperintenden und der Jungreformatorischen Bewegung. Der weltliche Vizepräsident des Oberkirchenrates Ernst Hundt, NSDAP-Mitglied und den „Deutschen Christen“ nahestehend, verweigerte die Mitarbeit. Er wurde von Jäger „mit sofortiger Wirkung“ beurlaubt6. Am Abend des 24. beurlaubte der Staatskommissar fast den gesamten Oberkirchenrat und löste sämtliche gewählte kirchliche Vertretungen auf. Die dadurch freigewordenen Stellen im Oberkirchenrat wurden durch „Deutsche Christen“ ersetzt. Präsident wurde der Berliner Anwalt und „Deutscher Christ“ Dr. Friedrich Werner. Weltlicher Vizepräsident wurde der Pfarrer und Reichsleiter der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ Joachim Hossenfelder. Jäger ernannte auch Bevollmächtige für die acht altpreußischen Kirchenprovinzen und die sieben preußischen Landeskirchen. Für die Provinz Brandenburg wurde Karl Eckert Bevollmächtigter.
Am Sonntag, dem 25, trafen sich unzufriedene Mitglieder des Oberkirchenrates und die Generalsuperintenden. Auf Anregung von Otto Dibelius wurde einen Aufruf verfaßt, der ihrem Protest Ausdruck geben sollte. Sie protestierten gegen die politische Einmischung in die Kirche und das, was sie als politische Verfälschung des Evangeliums verstanden. Sie erklärten Hossenfelder für untragbar und forderten Gemeinden und Pfarrer auf, sich mit ihnen zusammenzuschließen. „Am kommenden Sonntag wollen wir diese ganze Not unserer Kirche im Gottesdienst vor das Angesicht des lebendigen Gottes bringen. Es soll ein Buß- und Betgottesdienst sein!« Der Aufruf schloß mit jenem Wort aus Römer 8, das in diesem Zusammenhang ein besonderes Gewicht besaß, weil es so oft die Höhepunkte der nationalen Geschichte begleitet hatte: ’Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein!’7 Otto Dibelius wurde von Jäger sofort beurlaubt.
Am 27. Juni ordnete Dr. Werner an, daß der Gottesdienst am 2. Juli in Dank und Fürbitte festlich auszustatten sei. Weiter,
„Aus Anlaß des großen Werkes der Neuordnung der Kirche, das soeben eingeleitet worden ist“, waren „sämtliche Kirchen-, Pfarr- und Gemeindehäuser und die kirchlichen Verwaltungsgebäude im Gebiet der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union außer mit der Kirchenfahne mit schwarz-weiß-roten und der Hakenkreuzfahne zu beflaggen.“ 8
Dr. Werner ordnete auch die Verlesung von einem von Joachim Hossenfelder verfaßten „Wort an die Gemeinden“ in den Gottesdiensten an. Ferner verbat er, wie in dem Brief erwähnt, den Pfarrern jede kirchenpolitische Betätigung.
Die gegensätzlichen Positionen mußten zu Konflikten in den Gemeinden führen. Viele Pfarrer waren tatsächlich in einen tiefen Gewissenskonflikt gestürzt worden. Diejenigen, die mit dem neuen Regime Hoffnungen verknüpft hatten, waren besonders betroffen.
Am 28. Juni entschied sich Jäger, die Mitglieder der neuen kirchlichen Vertretungen von seinen Bevollmächtigten ernennen zu lassen. Daraufhin schickte Karl Manoury als modérateur der Generalversammlung eine Vorschlagsliste mit den zu ernennenden Mitgliedern der Generalversammlung des Consistoriums der Französischen Kirche zu Berlin.
Am selben Tag an dem der Brief rausging, erhob sich Protest seitens eines der Adressaten, einem Mitglied der NSDAP. In einem Brief an Gustav Humbert war gar von „passivem Widerstand“ die Rede9. Drei Tage später klagte der selbe Briefeschreiber darüber, daß die Vorschlagsliste für das neue Consistorium offenbar „ohne irgendwelche Nachprüfung“ erfolgt sei, also nicht im Sinne des Nationalsozialismus wäre.10
Die fünf in der Vorschlagsliste genannten Pfarrer – Manoury war darunter – waren alle Männer, die früher oder später Positionen gegen den Nationalsozialismus einnahmen. Einer setzte sich schon 1934 nach Dänemark ab. Ein anderer wurde Mitglied der Bekennenden Kirche. Keiner war Mitglied der NSDAP und mit Ausnahme von Manoury, keiner gehörte zu den „Deutschen Christen.“
Dank des Einsatzes von Karl Manoury kam es bei der französischen Kirche aber nicht zu der Ernennung eines neuen Consistoriums. Schon am 7. Juli schrieb er an den Staatssekretär für die Kirche der Provinz Brandenburg, Eckert und machte auf die Status der Hugenotten als „privilegierte reformierte Fremdengemeinde“ aufmerksam.
„Hierbei ist besonders zu bemerken, dass wir seit Jahrhunderten eine irgendwie demokratischen Wahlakt nicht kennen. Vielmehr erfolgt die Einsetzung der Anciens und Anciens-Diacres unserer Vénérable Compagnie du Consistoire einzig und allein durch Berufung und zwar auf Lebenszeit. Aus diesem Grund haben irgendwelche kirchenpolitische Gruppen bei uns nie bestanden, da sie nach unserem Bekenntnis und der Discipline, die Bekenntnischarakter hat, verboten sind."
„Für die Anwendung der obrigen Anordnung [betreffend der Auflösung der gewählten Körperschaften] auf unsere hugenottische Gemeinden bestehen daher die sonst anerkannten Voraussetzungen, schon deshalb nicht, da diese Ordnung nur g e w ä h l t e Körperschaften beziehen, unsere Vénérable Compagnie du Consistoire aber nach dem Ausgeführten keine gewählte Körperschaft ist...Wir bitten, diese Vorschlagsliste als solche als hinfällig zu betrachten.“11
Durch diesen Schachzug gelang es Manoury, das alte Consistorium vor einem noch stärkeren Zugriff der Nationalsozialisten zu bewahren. Dabei war das Consistorium ohnehin in sich gespalten. Fuhrich-Grubert ermittelte, daß 21 der nichtgeistlichen Mitglieder des Consistoriums im Jahre 1933 Mitglieder der NSDAP waren. Diese Zahl stieg in den folgenden Jahren12. Karl Manoury beschrieb die Situation später:
„Als der Kirchenkampf begann, wurden die Verhältnisse in unserem Consistorium sehr unerfreulich...Es kam bei uns zu einem regelrechten ’Kirchenkampf’, der darin bestand, daß einige Herren sich bemühten, alle Mitglieder des Consistoriums, die keine Nazis waren, aus diesem zu entfernen...Es war ein dauernder kleiner und großer Krieg.“13
Seit 1934 setzte sich Manoury für das Projekt einer Deutschen Hugenottenkirche ein und wurde Mitglied eines Dreier-Gremiums, das eine Verfassung für die geplante Kirche erarbeiten sollte. Die Deutsche Hugenottenkirche, die schließlich nicht zu Stande gekommen ist, wäre geprägt von der Zeit und abhängig vom nationalsozialistischen Staat gewesen14. Später distanzierte sich Manoury von diesem Projekt.
Im Oktober 1935 wurde der 250. Wiederkehr des Edikts von Potsdam gefeiert. Im Licht der Öffentlichkeit, wurden manche von dem Wunsch beseelt, ihre Treue zum Staat unter Beweis zu stellen. Viele Hugenotten wollten nicht nur beweisen, daß sie Deutsche waren, sondern, daß sie die besten Deutschen waren. Am 29. Oktober bedauerte Dr. Karl Ahrendts, secrétaire der Generalversammlung, „heute nicht unseren Führer und Reichskanzler hier unter uns begrüßen zu können, um...ihm den Dank der gesamten Französischen Kirche zum Ausdruck zu bringen dafür, daß er den Bolschewismus, der nicht nur den Untergang Deutschlands, sondern auch seiner Kirchen mit sich gebracht hätte, niedergeschlagen hat.“15 In einer Ansprache am 31. Oktober auf dem Friedhof in der Luisenstraße, nannte Pfarrer Richard Lagrange, Mitglied der NDSAP, Hitler „einen Schützer unserer Glaubensart“, und damit, „der echte und rechtmäßige Erbe und Träger des Geistes und Werkes des Großen Kurfürsten“. Für die Hugenotten sagte er, „Es soll uns keiner übertreffen in der Liebe zu unserem Führer und zu diesem Volk und Land.“16 Diese Einstellung entsprach aber auch der Tradition der Staatstreue, die viele Hugenotten mühelos von dem Hause Hohenzollern auf das neue Regime übertrugen. Zu der Zeit wurde sowohl in der Potsdamer als auch in den Berliner Kirchen noch für die Hohenzollern gebetet. Später schlief das Hohenzollerngebet ein.17
Am 30. Oktober gab es einen Festgottesdienst in der Potsdamer Kirche. In seiner Predigt sprach Karl Manoury, in Anwesenheit des Hohenzollern Kronprinzen, über den Großen Kurfürsten: „Von ihm können wie wirklich sagen, ohne ihn wären wir nicht hier. Wir wären dann in einem anderen evangelischen Lande, aber wir hätten niemals das Glück gehabt, gerade Deutsche zu werden.“18 Im Licht der nationalsozialistischen Propaganda mußten diese Worte fast wie ein Bekenntnis zum Regime geklungen haben. Manourys weitere Ausführungen konnte man dagegen durchaus als Kritik am Regime verstehen. Hätte sich der nationalsozialistische Bürgermeister nicht geweigert, den Festgottesdienst zu besuchen, wäre er über die folgenden Betrachtungen alles anderes als angetan.
„Wenn wir Hugenotten von den Taten Ludwig XIV. gegen unsere Vorfahren hören, so erfaßt uns noch heute ein Zorn gegen ihn. Er steht vor uns als der vollendete Bösewicht, eine Ausgeburt der Hölle. Diese unsere hugenottische Betrachtungsweise ist selbstverständlich einseitig, und wir würdigen damit die Bedeutung dieses Königs nicht. Seine Taten geschahen selbstverständlich nicht aus Bosheit, sondern aus einem höheren politischen Gesichtspunkt heraus. Er wollte die völlige politische und kirchliche Einheit eines Volkes, ’ein König, ein Volk, eine Kirche’. So hat man es damals formuliert, und so war es auch von Ludwig gedacht. Um dieser Einheit willen mußten unsere Vorfahren auf die Galeeren und in den Kerker, um dieser Einheit willen loderten die Scheiterhaufen, und um dieser Einheit willen verlor Frankreich einige Hunderttausend seiner wertvollen Bürger. Wir sehen in dieser völligen Vereinigung eine ungeheure Vergewaltigung des inneren Menschen, des Gewissens. Wenn man gegen Ludwig diese Vorwürfe erhoben hätte, so hätte er sich energisch dagegen verwahrt. In der Aufhebung des Edikts von Nantes sagt er ausdrücklich, daß jeder in seinem Innern glauben könne, was er wolle. Er dürfe es nur nicht äußerlich zum Ausdruck bringen. Ludwig wollte also garnicht [sic] die innere Überzeugung, sondern nur das äußere Verhalten des Menschen vereinheitlichen. Was muß für diesen König die Religion gewesen sein? Ein Kleid, das man auszog oder auszog oder auf seinen Befehl wechselte. Dieser Ludwig war also gar kein Fanatiker des Katholizismus, sondern ein Fanatiker des staatlichen und kirchlichen Einheitsgedankens.“ 19
Am Abend des 30. Oktobers gab es in der Staatsoper in Berlin eine Galavorstellung der Oper Palestrina, zu der die Französische Gemeinde Hermann Göring und Kirchenminister Hanns Kerrl eingeladen hatte. Das Consistorium hatte die Idee die Oper Les Huguenots von Giacomo Meyerbeer aufführen zu lassen aufgegeben, weil Meyerbeer Jude war. Die Prominenz erschien nicht. Auch Karl Manoury blieb der Vorstellung fern. Stattdessen hielt er im Altersheim der Gemeinde eine Feierstunde ab.20
Karl Manoury beschrieb die Lage in Potsdam in seinem Buch Zur Geschichte der Französisch-Reformierten Gemeinde Potsdam zwischen 1662 und 1953.
„In dieser Zeit entbrannte der Kirchenstreit. Da unser Potsdamer Presbyterium dem Nazismus ablehnend gegenüberstand, so wurden wir innerlich davon nicht berührt. Trotzdem gab es gelegentlich Unannehmlichkeiten. So beschwerte sich eine fanatisch nazistische alte Dame beim Oberbürgermeister über mich, weil ich nach der Auflösung aller kirchlichen Körperschaften keine Neuwahl des Presbyteriums veranstaltete. Die französisch-reformierten Gemeinden waren nämlich von der Neuwahl befreit, da es nach unserer alten Kirchenordnung keine solche Wahl gibt. Dann verlangte einmal ein uns völlig unbekannter Postsekretär, wir sollten die „jüdischen Buchstaben" über dem Eingang der Kirche entfernen. Wir antworteten höflich aber ablehnend. Nach einigen Jahren tauchte dies Problem wieder auf, aber dieses Mal ernstlicher. Jetzt verlangte der Oberbürgermeister die Entfernung. Prof. Kania sprach mit mir über die Angelegenheit und redete dann dem Oberbürgermeister ein, diese Buchstaben gehörten zum Baustil der Kirche und müßten bleiben. Als die Synagoge und die jüdischen Geschäfte geplündert wurden, wollte die dazu herbeigeholte auswärtige SS auch unsere Kirche anstecken, da sie glaubte, es sei eine Synagoge. Als ich die Polizei um die Erlaubnis zu einer Gemeindefeier in einem Saal bat, wurde die Erteilung solange hinausgeschoben, bis der Termin verstrichen war. Danach kam ein Polizeibeamter und fragte, ob wir ohne Erlaubnis gehalten hätten? Wir hatten aber nicht; offenbar wollte man uns zu einer Ungesetzlichkeit verleiten. Auf jeden Fall kam es hier nicht zu Schwierigkeiten, wie in der Berliner Gemeinde, wo ein großer Teil des Consistoriums stark nazistisch war.“
Manoury behielt seine Distanz zum Nationalsozialismus, wendete sich aber auch der Bekennenden Kirche nie zu. Auf der Vierten Deutschen Hugenottensynode im Oktober 1936 lehnte er gar einen der Bekennenden Kirche nahe stehenden Referenten ab.21
Als Potsdams Oberbürgermeister von Manoury verlangte, die „jüdischen Buchstaben“ über dem Eingang der Kirche“, also vier hebräische Buchstaben, die den Namen Gottes darstellen (2. Mose 3, 14), zu entfernen, lehnte der Pfarrer ab. Dafür wollten auswärtige SS-Männer in der Pogromnacht vom 9. November 1938 die Kirche anzünden, weil sie meinten, sie wäre eine Synagoge.
Karl Manoury war in jenen Jahren publizistisch äußerst aktiv. Vom April 1937 bis Mai 1941 war er Redakteur der Kirchlichen Nachrichten für die französisch-reformierten Gemeinde in Großberlin und veröffentlichte, meist in Publikationen der französisch-reformierten Gemeinde, mehr als 400 Artikel, vorwiegend über die Geschichte der Hugenotten.
Im August 1939 richtete Manoury seinen Luftschutzkeller her, wofür er heftig attackiert wurde. „Unser Führer macht keinen Krieg“, hieß es.
„Es dauerte nur noch wenige Tage, dann hörte ich nachts in der Straße weiter zur Stadt hin ein Klopfen und Rufen. Der Briefträger brachte mitten in der Nacht die Stellungsbefehle. Es war, als ob der „Würgeengel" aus der Mosesgeschichte von Haus zu Haus ging; ich wartete, bis es auch bei mir klingelte. Mit dem Schlaf war es vorbei. Wahrscheinlich hatte man die nächtliche Verteilung aus Gründen der Geheimhaltung gemacht, aber das Gegenteil erreicht, es wirkte nun besonders schrecklich.“22
Ab dem 27. August diente Karl Manoury bei der schweren bespannten Artillerie und mußte an dem Überfall auf Polen teilnehmen. Am 13. Dezember 1939 wurde der 45-jährige Soldat entlassen und der Pfarrer konnte nach Hause zurückkehren. Er schrieb später:
„Nach meiner Rückkehr mußte ich vor den Frauen in Berlin einen Vortrag halten. Eine sehr nazistische Dame fragte, ob ich auch die von den Polen abgehackten Hände und Zungen gesehen hätte. Als ich sagte, daß ich davon überhaupt nichts gesehen und auch in Polen nicht einmal etwas davon gehört hatte, sank ich völlig in ihrer Achtung. Dies Vergehen gegen die nazistische Propaganda hat sie mir nie verziehen.“23
Lange Zeit hielt das Consistorium die Hand über Gemeindemitglieder und -mitarbeiter „nichtarischer“ Herkunft. Seit 1938 aber verfolgte eine Mehrheit des Constoriums eine antisemitische Politik. „Nichtarische“ Gemeindebeamte wurden entlassen, man kündigte die gemeindeeigenen Wohnungen von jüdischen Mietern. Es ist nicht bekannt wie Karl Manoury sich in dieser Frage verhielt, aber er scheint auch nicht ganz frei gewesen zu sein von der Angst vieler Hugenotten wegen ihrer „rassischen“ Herkunft Nachteile zu erleben. Wohlwissend, daß die Hugenotten aus Südfrankreich stammten, spekulierte er im Oktober 1938 in einem Beitrag für die Kirchliche Nachrichten, daß „in Südfrankreich aus der Zeit der Völkerwanderung so viel germanisches Blut zurückgeblieben ist, daß die Bevölkerung dort germanischer ist als im Norden.„ 24
1943 wurde Karl Manoury mit der Realität der nationalsozialistischen Rassenpolitik konfrontiert. Im Frühjahr war ein Mitglied seiner ersten Gemeinde in Reetz, der getaufte Jude Israel Rabinowitsch, in Potsdam festgenommen worden. Als zwei seiner Kinder nach Potsdam reisten, um ihren Vater zu besuchen, war es selbstverständlich, daß sie nachher bei Karl Manoury Trost suchten. Rabinowitsch wurde im September 1943 in Auschwitz ermordet.
In den letzten Kriegstagen stellte sich Karl Manoury gegen diejenigen im Consistorium, die noch immer Anhänger des „Führers“ waren. Laut einem Brief vom 7. Dezember 1945 wollte Dr. Ahrendts noch am 20. Mai 1945 ein „Glückswünsch- und Huldigungstelegram“ an Adolf Hitler schicken, „das nur durch die mutige Weigerung unseres Pfarrers Manoury, es mit zu unterschreiben, unterblieb.“25
1944 wurde das Gotteshaus am Gendarmenmarkt durch Bomben zerstört. Die Gemeinde versammelte sich im benachbarten, nur zum Teil beschädigten Französischen Dom und an verschiedenen Orten im Westen der Stadt. Am 14. April 1945 wurde auch Potsdam durch einen Bomberangriff getroffen. „Der Brand der Stadt leuchtete so hell“, erinnerte sich Manoury,“ daß man im Zimmer die Zeitung lesen konnte, ich habe es absichtlich ausprobiert.“
Das Pfarrhaus wurde stark beschädigt. Auch die 1752-1753 erbaute Kirche hatte Schaden erlitten.
„In der Kirche war die Orgel durch Luftdruck umgestoßen, die Kuppel aufgerissen, viele Steine herabgestürzt, die Kanzel stand etwas vor, einige Bänke waren zerstört. Der Schaden an der Kirche wurde für 35000 Mark notdürftig repariert, ganz behoben ist er noch immer nicht. Die Figuren vor der Kirche und die Säulen. waren wenig beschädigt. Noch in der Nacht kam ein holländischer Glaubensgenosse, der als Zivilarbeiter in Potsdam war, um uns mit der Hilfe anderer Holländer auszugraben. Es war zum Glück nicht nötig, aber diese glaubensbrüderliche Verbundenheit freute uns doch sehr.“
Als die Rote Armee Potsdam näherte, mußte Karl Manoury als seine Waffensammlung verstecken. Teile davon ist auch verlorengegangen. Der Rest kam später zu dem Hugenottenmuseum in Berlin.
„Vor dem Pfarrhaus, an der andern Seite [eines] Bombentrichters, stand eine sowjetische Batterie, deren Soldaten aber nicht in die Häuser kamen, sondern immer bei ihren Geschützen saßen. In der Nähe der Kirche stand eine schwere Batterie. Als die Armee Wenck bei Ferch stand, feuerten beide Batterien einen Tag und eine Nacht. Ich konnte mir vom Fenster aus direkt den Krieg ansehen. Wenn die schwere Batterie feuerte, zitterten die mürben Wände des Hauses, so daß die in der Wohnung befindlichen etwa 18 Frauen immer befürchteten, das Haus würde einfallen. Schließlich fuhren die Batterien ab.“26
Nach dem Ende der Kämpfe kletterte Manoury zusammen mit Küster Martin und dem oben erwähnten Glaubensbruder aus Rotterdam, ein Mann namens Molendyck, aufs Dach, um notdürftige Reparaturen auszuführen. Über seine Kriegserfahrungen schreibt Manoury:
„Ich glaube, die beiden Kriege haben auch viele Pfarrer umgewandelt bzw. einen neuen Typus geschaffen, der den Sorgen und Nöten des Lebens näher stand und sie vielfach ganz persönlich mit seinen eigenen Händen anfassen musste.„
Am 20. Mai konnte der erste Gottesdienst in der Potsdamer Kirche mit 32 Teilnehmern gefeiert werden.
Nach dem Krieg bemühte sich Karl Manoury zweimal erfolglos um eine neue Stellung, im März 1946 bei der lutherischen St. Nicolai-Gemeinde in Potsdam und im März 1948 an der Krankenanstalt in Berlin-Buch.
Im Jahre 1948 wurde auf Veranlassung von Karl Manoury ein neues Gemeindeorgan der Französischen Gemeinde in Berlin gegründet, Die Hugenottenkirche, die er auch bis zu seinem Tod betreute. Er war schrieb selber mehr als 250 Beiträge für das Blatt. Und Manoury forschte und schrieb Bücher. Schon während des Krieges hatte er seine zweibändige Geschichte der Hugenotten-Kirche veröffentlicht. 1955 erschien Das Kriegswesen der Hugenotten 1562–1598 und zwei Jahre später Die Geschichte der Französischen Kirche zu Berlin. Manoury galt als Experte für mittelalterliche Festungsbauten. Es wandten sich Autoren von historischen Romanen, darunter Claus Back, an ihn als Fachmann.
Nie hatte Karl Manoury den Kontakt zu den Menschen in Reetz verloren und in der Not blieb er eine Stütze. 1950 wurde der Reetzer Alfred Wernicke von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet und nach Potsdam gebracht. Man warf ihm Spionage und illegale Gruppenbildung vor. Als seine Frau und Kinder ihre Flucht aus der DDR planten, war Karl Manoury die Kontaktperson. Im Pfarrhaus traf sich Frau Wernicke mit ihrem Vater aus West Berlin und dort hatte man im voraus Eingewecktes gelagert, um nicht alles zurücklassen zu müssen.
Im September 1953 feierten die Potsdamer Gemeinde durch einen Gottesdienst das 200jährige Bestehen der Kirche. Karl Manoury beschieb seine Gemeinde in seiner Geschichte der Französisch-Reformierten Gemeinde Potsdam zwischen 1662 und 1953.
„Die Gemeinde ist sehr klein geworden. Vor dem Krieg hatte sie 250 wirklich gezählte Mitglieder, davon verlor sie die Hälfte durch Tod und Fortzug. Die Zahl der Besucher beträgt immer um 32, aber auch mehr. Es wird oft von der Kirchenbehörde gesagt, diese kleinen reformierten Gemeinden hätten keine Existenzberechtigung. Dazu frage ich: Wenn alle lutherischen Dorfgemeinden aufgehoben würden, die weniger Besucher haben als die kleinen reformierten Gemeinden, wie viele oder wie wenige lutherische Dorfgemeinden würden da wohl bestehen bleiben?
Für auswärtige Leser möchte ich erwähnen, daß alle vier Presbyter seit Jahren regelmäßig in jedem Gottesdienst anwesend sind. Welche lutherische oder reformierte Gemeinde kann dies von sich behaupten? Verzage nicht, du Häuflein klein!“
Ein später und wohl weitsichtiger Verdienst von Karl Manoury war die von ihm betriebene und von der Consistorium gebilligte Gründung des neuen Gemeindezentrums in Berlin-Halensee. Bei der Einweihungsfeier am 10. Dezember 1961 konnte er wegen der Schließung der Grenzen nicht anwesend sein.
Im Jahre 1962 wurde er emeritiert, blieb aber als modérateur der französisch-reformierten Kreissynode aktiv.
Am 8. August 1966, wenige Monate nach dem Tod seiner Frau, starb Karl Manoury in Berlin. Otto Leutke schrieb:
„Pfarrer Manoury war der Mann der Gemeinde. Er hielt nicht viel von ökumenischen Träumereien und gesamtkirchlichen Gleichschaltungsbestrebungen. Er prägte uns immer wieder ein: das Reich Jesu Christi ist zu finden in den Freuden, Problemen und Nöten der einzelnen Gemeinde; der Hausbesuch bei den Alten, Einsamen und Kranken ist wichtiger als die Weltreisen der prominenten Kirchenfürsten. Dieser Blick auf den eigenen Kirchturm hat ihm manchmal den Ruf der Engstirnigkeit eingebracht. Er war nicht engstirnig, er wußte nur die richtigen Akzente zu setzen und das zu betonen, was in aller Schlichtheit doch das Wesentliche ist und bleibt.“ 27
1 "Otto Leutke, Karl Manoury", in: Die Hugenottenkirche, September 1966, 19. Jahrgang, Nummer 9, S. 42-42.
2 Archiv der Französischen Kirche im Französischen Dom, Berlin (AdFD) 205 Rep 04-1314b Vol. 3, Blatt 32.
3 Karl Manoury (Reszenent), "Im Westen nichts Neues", in: Mutiges Christentum, 11. Jg., Nr. 27 vom 6.7.1929, S. 107.
4 Ursula Fuhrich-Grubert, Hugenotten unterm Hakenkreuz. Studien zur Geschichte der Französischen Kirche zu Berlin 1933-1945. Berlin: Walter de Gruyter, 1994.
5 AdFD, 219 Rep. 04 – 1103 Vol. 1, Blatt 99.
6 Kretschmar, G. (Hg.), Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, Bd. 1, Das Jahr 1933, bearbeitet von C. Nicolaisen, München, 1971, S. 70.
7 Junge Kirche 1, 1933, S. 16.
8 Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt 10, 28.6.1933
9 AdFD, 219 Rep. 04 – 1103 Vol. 1, Blatt 94.
10 AdFD, 219 Rep. 04 – 1103 Vol. 1, Blatt 75.
11 AdFD, 219 Rep. 04 – 1103 Vol. 1, Blatt 71.
12 Fuhrich-Grubert, S. 173.
13 Die Hugenottenkirche, 18. Jg. Juli 1965. Nr. 8. Als diese Beschreibung der Lage veröffentlicht wurde, gab es heftigen Protest seitens eines ehemaligen Mitglieds des Consistoriums, der sich verunglimpft fühlte. Eine vom Consistorium veranlaßte Untersuchung bestätigte im Wesentlichen die Einschätzung Karl Manourys. Siehe AdFD 205 Rep. 04 – 1314b. Vol. 3.
14 Die Geschichte der Französischen Kirche zu Berlin. Hugenottenkirche, 1672 – 1955. Herausgegeber: Consistorium der Französischen Kirche zu Berlin, 1955, S. 109.
15 Die Feier der 250. Wiederkehr der Aufnahme der Hugenotten durch den Großen Kurfürsten in Brandenburg-Preußen (Edikt von Potsdam vom 29. Oktober 1685) durch die Französischen Kirche in Berlin. zusammengestellt von Dr. Ahrendts. Berlin: Selbstverlag des Consistoriums der Französischen Kirche, S. 51.
16 Die Feier der 250. Wiederkehr..., S. 53.
17Zur Geschichte der Französisch-Reformierten Gemeinde Potsdam zwischen 1662 und 1953. Zitiert aus dem Internt: www.ekibb.com/kirchen/kirchen/reformiert/manoury.html
18 ibid., S. 45.
19 ibid., S. 46.
20 Geschichte der Französischen Kirche zu Berlin..., S. 109.
21 AfrD, Freie Deutsche Higenottensynode; Handschriftliche Notiz auf dem Schreiben von Hérancourt an Manoury, 14.10. 1936.
22 Zur Geschichte der Französisch-Reformierten Gemeinde Potsdam zwischen 1662 und 1953
23 Karl Manoury: Die Anfänge der französisch-reformierten Gemeinden in Brandenburg.
24 Karl Manoury, "Religion und Rasse", in: Kirchliche Nachrichten, 15. Jg., Nr. 28 vom 15.10.1938.
25 AdFD 205 Rep. 04-1314b Vol. 3.
26 Zur Geschichte der Französisch-Reformierten Gemeinde Potsdam zwischen 1662 und 1953.
27 Otto Leutke, "Karl Manoury".
In der Reetzer Kirche hängt eine Gedenktafel für die Gefallenen und Vermißten des Zweiten Weltkrieges. Der erste Name, der darauf zu lesen ist, lautet Israel Rabinowitsch. Er fiel allerdings nicht für „Führer, Volk, und Vaterland“. Israel Rabinowitsch wurde ermordet.
Im Jahre 1922, am 14. Juni, war Rabinowitsch in der Reetzer Kirche getauft worden. In dem Kirchenbericht hieß es: "Es ereignete sich der seltene Fall, daß ein Erwachsener zum evangelischen Glauben übertrat und getauft wurde." Am Heiligen Abend desselben Jahres heiratete er in der Reetzer Kirche die genau zehn Tage jüngere Marie Anna Schuster.
Israel Rabinowitsch wurde am 9. September 1893 in Borosna, Kreis Tschernigow, in der Ukraine geboren, als Sohn des Händlers Salomon Rabinowitsch und seiner Frau Rachel Lea Rabinowitsch, geb. Wiboyschik. Es war eine Familie mit sieben oder acht Kindern. Als Soldat der russischen Armee geriet er schon am 28. August 1914 bei der sogenannten Schlacht bei Tannenberg, als 20.000 Russen gefangen genommen wurden, in deutsche Gefangenschaft. Er mußte im Kohlenbergwerk in Schornewitz in der Lausitz arbeiten. Im August 1918 kam Israel Rabinowitsch als Kriegsgefangener in die Brandtsheide und arbeitete im Sägewerk am Bahnhof Wiesenburg.
Als er am 4. Mai 1921 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, entschied er sich, in Reetz zu bleiben. Rabinowitsch arbeitete auf dem Hof des Gemeindevorstehers Franz Wernicke. Dort lernte er seine zukünftige Frau kennen, die dort in Stellung war. Nach ihrer Hochzeit beendeten das junge Paar ihr Arbeitsverhältnis bei Wernickes.
Israel Rabinowitsch arbeitete danach im Sägewerk und in der Ziegelei von Richard Senst als Maschinist; er wurde Mitglied des Deutschen Holzarbeiter-Verbandes. Anna Rabinowitsch arbeitete als Saisonarbeiterin bei Wernickes.
Doch das Geld reichte für ihre wachsende Familie nicht. Israel Rabinowitsch fuhr nach Zerbst, um dort von Juden Bekleidungsstücke einzukaufen, die er dann in Reetz weiter verkaufte. Die Speisekammer des Hauses wurde zum „Laden“. Dieser Handel weckte aber den Neid bei Händlern im Dorfe, die dafür sorgten, daß er unterbunden wurde. Dann versuchte es Rabinowitsch mit Maulwürfen. Er fing sie und verkaufte die Felle in Zerbst. Um ihre fünf Kinder, Klara, Werner, Alfred, Willi und Elli, zu ernähren, pachtete das Ehepaar Rabinowitsch ein paar Morgen Land und hielt ein paar Schweine.
Viele ältere Reetzer können sich an „Israel“, wie er allgemein bekannt war, erinnern. Unauffällig, still, lebenslustig, ein „gutes Gemüt.“ So wird er von vielen noch heute beschrieben. Er hat gern einen getrunken, aber viel lieber spielte er Karten. Fast jeden Abend ging er in die Gaststätte Galle in der Zerbster Straße, um Karten zu spielen.
Israel Rabinowitsch war im Schützenverein und Radfahrerverein. Der Versuch, dem Kriegerverein beizutreten, scheiterte daran, daß er im Krieg in der falschen Armee gedient hatte. Er war völlig integriert im Dorf, leistete Handdienste, wenn er an der Reihe war und diente wie alle anderen bei Beerdigungen. Im Dorf wurde er nicht so sehr als Jude betrachtet, sondern als Russe. Viele erinnern sich wie „Israel“ bei Vereinsbällen oder auf Kindergeburtstagen „russisch tanzte“. Es wird noch erzählt, wie er manchmal in seinem Garten in der Medewitzer Straße tanzte.
Die Eigenschaft von Israel Rabinowitsch, die am häufigsten erwähnt wird, ist seine Hilfsbereitschaft. Brauchte man Hilfe, war auf „Israel“ Verlaß. Das galt auch für unangenehme Aufgaben. Mal wurde ein Graben durch das Dorf gezogen. Die Seiten stürzten ein und begruben einen Mann. Aus Angst selber verschüttet zu werden, wollte keiner in den Graben, um den Mann herauszuholen. Rabinowitsch tat es und rettete ein Leben. Ein anderes Mal erhängte sich einer im Walde. Man bat Rabinowitsch, die unangenehme Aufgabe zu übernehmen, ihn abzuschneiden.
Gegenüber seinem Arbeitgeber, Richard Senst, schien Rabinowitsch besonders loyal zu sein. Wie einer das Verhältnis beschrieb, er wäre für Senst „durch Feuer gegangen“.
Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, stand Rabinowitsch vor einer völlig neuen Situation. Obwohl getauft, war er nach der rassischen Auffassungen der neuen Machthaber Jude. Und er war Ausländer. Ein 1932 gestellten Antrag auf Einbürgerung war noch nicht bearbeitet worden. Nun ordnete der Reichminister des Innern an, keine „Ostjuden“ mehr einzubürgern. Die gesamte Familie galt als staatenlos.
Manche erinnern sich, daß Israel Rabinowitsch versuchte ein „guter Deutscher“ zu sein. Er meldete seinen Sohn Werner bei dem Jungvolk an, seine Tochter Klara bei der BdM. Sie wurden später aus diesen Organisationen entfernt. Zu Weihnachten 1934 erhielt die kinderreiche Familie Rabinowitsch noch einen Hasen von der NS-Wohlfahrt.
Nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze verschlechterte sich allerdings die Lage der Familie. Nun mußte sich Israel Rabinowitsch täglich beim Amtsvorsteher wegen seiner Anwesenheit melden. Dem Ehepaar Rabinowitsch wurde nahegelegt, sich scheiden zu lassen. Sie lehnten ab. Ihren Kindern, die als „Halbjuden“ galten, wurde es verboten, einen Beruf zu erlernen.
Eines Abends, etwa 1938, spielte Israel Rabinowitsch, wie es seine Gewohnheit war, in der Gaststätte Galle Karten. Er erzählte seinem Sohn Werner, was dann passierte. Gegen 10 Uhr betrat der Ortsgruppenleiter von Reetzerhütten das Lokal mit den Worten, „Wer spielt hier noch mit Juden?“ Die Spieler ließen die Karten fallen. Rabinowitsch stand auf und ging. Er erhielt bei allen Gaststätten des Ortes Hausverbot.
Rabinowitsch wurde ebenfalls von Vereinsleben ausgeschlossen. Der Radfahrerverein stellte zunächst dagegen, gab aber bald nach.
Noch vor dem Krieg wurde Israel Rabinowitsch der Vorschlag unterbreitet, auszuwandern, und zwar von Richard Senst. Dessen Bruder, Karl Senst, war nach dem Ersten Weltkrieg nach Sao Paolo, Brasilien ausgewandert. Karl Senst wollte nach Deutschland zurückkehren. Er wäre in das Haus der Familie Rabinowitsch gezogen, sie hätte sein Haus in Brasilien haben können. Elli Renner, geb. Rabinowitsch erinnert sich: "Meine Mutter, als sie das hörte, hat gesagt, nein, das kommt nicht in Frage. Ich bleibe hier, wo ich geboren bin und ich gehe in kein fremdes Land und dann übers Wasser. Sie hatte Angst. Mein Vater hat gesagt, wo meine Familie bleibt, da bleibe auch ich."
Am 13. April 1939 teilte ihm der Landrat des Kreises Zauch-Belzig mit, daß seine Aufenthaltserlaubnis für das Deutsche Reich am 31. März 1939 erloschen sei, mit der Begründung die Erteilung einer neuen Aufenthaltserlaubnis komme „aus allgemeinen staatspolitischen Erwägungen“ nicht mehr in Frage. Eine eingereichte Beschwerde gegen die Verfügung wurde am 16. Juni 1939 abgewiesen.
Man drohte Rabinowitsch die „zwangsweise Abschiebung“ an, falls er am 1. September das Reichsgebiet noch nicht verlassen hätte. Nun bemühte sich Rabinowitsch selber um die Auswanderung. Ein Brief an die Eltern in der Sowjetunion kam zurück mit dem deutschen Vermerk, "nicht zustellbar." Auch die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Abteilung Wanderung konnte ihm nicht helfen, da er keine Verwandten im neutralen Ausland nennen konnte, die die erforderlichen Devisen zur Verfügung stellen konnten. Wahrscheinlich wegen des Ausbruchs des Krieges kam es aber zu keiner Abschiebung.
Als mit dem Ausbruch des Krieges Lebensmittel- und Kleiderkarten eingeführt wurden, erlebte die Familie Rabinowitsch eine weitere konkrete Benachteiligung. Anna Rabinowitsch erhielt keine Karten, die Kinder welche mit besonderer Farbe, mit denen man weniger kaufen konnte als die anderen. Unterstützt wurde die Familie von Verwandten und Freunden. Von einem Hausschlachter konnte Israel Rabinowitsch bei Dunkelheit Fleisch für seine Familie holen.
Einen gelben „Judenstern“ brauchte Israel Rabinowitsch nicht zu tragen, da er in einer „privilegierten Mischehe“ lebte, d.h. mit einer sogenannten „Arierin“ verheiratet war, und fünf evangelisch getaufte Kinder hatte. Dafür erhielt er öfter Vorladungen von der Gestapo nach Potsdam. In solchen Fällen versuchte Richard Senst ihn zu schützen. Zwei mal reiste Senst nach Berlin, um Rabinowitsch freigestellt zu bekommen.
Im Februar 1942 stellte Richard Senst beim Wirtschaftsamt des Landrats des Kreises Zauch-Belzig einen Antrag auf eine Raucherkarte für seinen Mitarbeiter Rabinowitsch. Die Antwort vom 17. Februar war knapp. "Ihrem Antrag vom 9. ds Mts. auf Ausstellung einer Raucherkarte für den Arbeiter Israel Rabinowitsch kann ich leider nicht entsprechen, da es sich um einen Juden handelt."
Dabei hatte Israel Rabinowitsch, in der Hoffnung zu überleben, nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, versucht sich freiwillig bei der Wehrmacht als Dolmetscher zu melden.
Eines Tages kam ein Reetzer zu Israel Rabinowitsch und sagte ihm, er solle Unterschriften im Dorf gegen seine Ausweisung sammeln. Rabinowitsch lehnte die Idee ab und sprach mit keinem anderen über das Thema. Drei Tage später jedoch suchte ihn die Polizei an seiner Arbeitsstelle auf und stellte ihn zur Rede wegen des Unterschriftensammelns, obwohl er nie welche gesammelt hatte und es auch nicht vorhatte.
Am 8. März 1943 wurde Israel Rabinowitsch von der Gestapo Potsdam schriftlich aufgefordert sich wegen einer "persönlichen Angelegenheit" bei der Gestapo-Dienststelle in Potsdam, Priesterstraße 13 zu melden. Diesmal bat Rabinowitsch seine Arbeitgeber nicht wieder nach Berlin zu fahren, da die Gefahr für Senst und seine Familie zu groß gewesen wäre. Außerdem war Rabinowitsch der Meinung, es gehe um seinen Sohn Werner. Nur wenige Tage zuvor waren Gestapoleute bei Anna Rabinowitsch gewesen und hatten nach dem Sohn, der in Wörlitz arbeitete, gefragt.
An dem Tag an dem Israel Rabinowitsch nach Potsdam fahren mußte, tagte die Reetzer Ortsgruppe der NSDAP im Parteilokal, dem Haus der Familie Rabinowitsch direkt gegenüber. Es wurde beobachtet, wie ein Parteigenosse während der Sitzung vor dem Lokal auf und ab ging, bis etwa eine halbe Stunde nachdem der letzte Zug aus Potsdam in Wiesenburg ankam.
Nach etwa vier Wochen erhielt Anna Rabinowitsch eine Karte von ihrem Mann. Die beiden ältesten Kinder, Klara und Werner, besuchten ihren Vater in Potsdam. Klara: "Mein Bruder und ich, wir waren mal da, haben mit ihm gesprochen, aber unter Kontrolle. Wir konnten ihm nicht die Hand geben. Er konnte nicht viel sagen. Das war unter Aufsicht. Wir haben nur das Notwendigste gesagt. Wir haben ein paar Lebensmittel mitgenommen. In dem Büroraum war ein Fach mit Gitter und da wurde es gleich reingelegt. Ob er es bekommen hat, wissen wir nicht. Er hat gesagt, es geht ihm gut."
Mitte Mai reiste Werner Rabinowitsch noch mal nach Potsdam. Er durfte seinen Vater sehen, aber nicht mit ihm sprechen. Als er Ende Mai zum dritten Mal seinen Vater besuchten wollte, wurde ihm mitgeteilt, sein Vater wäre nicht mehr da. Man würde eine Nachricht erhalten.
Richard Senst setzte sich noch mal, diesmal ohne Erfolg, bei der Gestapo ein. Werner Rabinowitsch: „Man hat ihn bedroht, wenn er sich weiter einsetzt für meinen Vater, daß er dann auch verschwindet."
Die Familie erhielt eine Karte aus Auschwitz mit der Mitteilung, es gehe ihm gut. Klara: "Wir bekamen von meinem Vater eine Karte aus Auschwitz, daß es ihm gut geht, weiter nichts. Dann haben wir angefragt, ob wir ihn besuchen könnten, mein Bruder und ich. Die haben den Amtsvorsteher benachrichtigt, wenn wir uns ihm anschließen wollten, könnten wir kommen. Das war die Antwort."
Anfang Oktober 1943 erhielt Anna Rabinowitsch die Nachricht von der Kommandantur des Konzentrationlagers Auschwitz, daß ihr Mann am 14. September "an den Folgen von Herzschwäche bei Darmkatarrh im hiesigen Krankenhaus verstorben" sei und die Leiche am 18.9.1943 "im staatlichen Krematorium eingeäschert" worden sei. Laut der beigelegten Sterbeurkunde sei der Tod um 8 Uhr 40 eingetreten in Auschwitz, Kasernenstrasse. Elli Renner: "Wir wußten damals nicht, was Auschwitz bedeutete."
Anna Rabinowitsch blieb mit drei schulpflichtigen Kindern zurück. Von der Großfamilie sowie einigen anderen Reetzern erhielt die Familie Rabinowitsch Unterstützung. Anna Rabinowitsch arbeitete weiterhin bei Franz Wernicke, inzwischen Ortsbauernführer, als Saisonsarbeiterin. Die jüngeren Kinder sind bei Wernickes ein- und ausgegangen und haben dort oft Mittag gegessen.
Eine ältere Reetzerin, die Israel Rabinowitsch gut kannte, sagt, "Die Leute wissen so ungefähr wer ihn hier weggebracht hat. Es muß einer vom Dorf gewesen sein."
Bei der Bodenreform erhielt Anna Rabinowitsch einen Hektar Land, den sie bewirtschaftete. Die deutsche Staatsangehörigkeit wurde der Familie Rabinowitsch 1949 anerkannt. 1958 brachte Anna Rabinowitsch ihren Hektar Land in die erste in Reetz gegründete LPG „Freie Brandtsheide“ ein. Sie starb 1989 im Alter von 95 Jahren.
Seinen Grabstein kann man noch auf dem Reetzer Friedhof finden, obwohl er durch hochgewachsene Bäume und Büsche gut versteckt ist. Richard Senst, Zimmermeister, steht darauf. Es ist eine schlichte Aussage über ein bemerkenswertes Leben. Senst wurde am 10. August 1889 in dem Ortsteil Roter Strumpf, als Sohn des Mauermeisters Friedrich Senst geboren. Sein Vater hatte wenige Jahre zuvor dort Ziegelei errichtet.
Der Erste Weltkrieg traf die Familie Senst härter als jede andere Familie in Reetz. Als die Waffen ruhten waren drei Söhne des Mauermeisters gefallen, einer war seit August 1918 vermißt, ein weiterer saß seit März 1925 in französischer Kriegsgefangenschaft. Richard Senst kehrte unversehrt aus Mazedonien zurück.
Am 7. Dezember 1919 überschrieb Friedrich Senst die Ziegelei und das Sägewerk an seinen Sohn, den Zimmermeister Richard Senst. In Reetz nannte man Richard Senst „Pfiffig“ und zwar nicht grundlos. Er war ein Erfindergeist und vielseitig interessiert. Senst war maßgeblich dafür verantwortlich, daß der Fortschritt nach dem Ersten Weltkrieg in Reetz Einzug hielt.
1921 baute Richard Senst ein Maschinenhaus und kaufte eine 150 PS fahrbare Dampfmaschinenanlage, eine sogenannte „Lokomobile“. Der Strom wurde durch eine Dampfmaschine erzeugt, die einen Dynamo antrieb, der Eigentum der Gemeinde war. Beheizt wurde die Dampfmaschine mit Abfällen von Sensts Sägewerk. In Kiepen wurden Holzreste ständig zur Dampfmaschine gebracht. Mit dem gewonnenen Strom betrieb Senst das Sägewerk und es fiel genug Strom ab, der auf einer Batterie gespeichert wurde, um Reetz mit Gleichstrom zu versorgen.
1922 gehörte Senst zu den Mitbegründern der Freiwilligen Feuerwehr in Reetz und war von 1933 bis 1945 Wehrleiter. Er war Kirchenältester und gehörte der Gemeindevertretung an. Richard Senst war ein außergewöhnlich intelligenter und akkurater Mensch. Jede Woche stellte er die Kirchenuhr.
Richard Senst war der wohlhabendste Mann im Orte, doch man merkte es ihm kaum an. Wie üblich in Reetz, ging er meistens in Holzpantoffeln. Wenn er zur Versammlung nach Belzig fuhr, dann mit dem Fahrrad und es wurde eine „Stulle“ mitgenommen
Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, trat fast die gesamte Dorfelite in die NSDAP ein. Die einzigen Ausnahmen waren der Müllermeister Otto Kühne und Richard Senst.
Jedoch, obwohl er nicht Nationalsozialist war, behielt Senst seinen nicht geringen Einfluß in Reetz, war weiterhin in der Gemeindevertretung und kümmerte sich um den Fortschritt im Orte.
Neben Bürgermeister Hermann Friedrich war Richard Senst die treibende Kraft hinter dem Bau der Badeanstalt von 1937 bis1938. Für den Bau der Badeanstalt stellte er eine Zugmaschine, die Schienen und die Kipploren von der Ziegelei zur Verfügung. Die Umkleidekabinen baute Zimmermeister Senst selber.
1938 wurden von Senst den Produktionsbereich der Ziegelei. automatisiert. Wirtschaftlich dachte Senst langfristig und auch ökologisch. Wenn der Ton einer Fläche ausgebeutet war, wurden umfangreichen Bodenumlagerungen vorgenommen, damit das Land sofort wieder als Acker genutzt werden konnte. In seiner Landwirtschaft lehnte er die Verwendung von Kunstdünger ab, sondern setzte ausschließlich Naturprodukte ein.
Zu denen, die in der Ziegelei beschäftigt waren, gehörte auch Israel Rabinowitsch. Rabinowitsch war während des Ersten Weltkrieges als russischer Kriegsgefangener in die Brandtsheide gekommen und hatte nach dem Krieg in Reetz geheiratet. Nach den rassischen Vorstellungen der Nationalsozialisten wurde der 1922 evangelisch getaufte Rabinowitsch als Jude eingestuft, seine Kinder als „Halbjuden“. Richard Senst tat, was er konnte, um Rabinowitsch und seine Familie zu schützen und zu unterstützen.
Noch vor dem Krieg versuchte er es der Familie Rabinowitsch zu ermöglichen nach Brasilien auszuwandern. Sensts Bruder Karl war nach Sao Paolo ausgewandert und wollte nach Hause. Es wäre eine Art Wohnungstausch gewesen. Als seine Frau deutlich machte, daß sie ihre Heimat nicht verlassen wollte, lehnte Israel Rabinowitsch das Angebot ab.
Anfang 1942 versuchte Senst, der im Juli 1941 in die NSDAP eingetreten war, zumindest eine Raucherkarte für seinen Mitarbeiter zu erhalten. Die Antwort vom Wirtschaftsamt des Landrates des Kreises Zauch-Belzig lautete knapp: "Ihrem Antrag vom 9. ds Mts. auf Ausstellung einer Raucherkarte für den Arbeiter Israel Rabinowitsch kann ich leider nicht entsprechen, da es sich um einen Juden handelt."
Öfter wurde Rabinowitsch von der Gestapo nach Potsdam vorgeladen. In solchen Fällen setzte sich Senst mit den Behörden in Verbindung und versuchte seinen Mitarbeiter zu schützen. Zweimal reiste Richard Senst nach Berlin, um Israel Rabinowitsch freigestellt zu bekommen. Im März 1943 wurde Rabinowitsch erneut und zum letzten Mal nach Potsdam beordert. Er bat Senst, sich nicht mehr für ihn einzusetzen, weil es für die eigenen Familie gefährlich werden könnte. Als es klar wurde, daß Rabinowitsch in Potsdam festgehalten wurde, setzte sich Richard Senst doch noch mal bei der Gestapo ein, diesmal ohne Erfolg. Senst wurde mit unangenehmen Konsequenzen bedroht, falls er sich weiterhin für „den Juden“ einsetze.
Nach der Ermordung von Israel Rabinowitsch in Auschwitz kümmerte sich Senst um dessen Familie, unter anderem indem er zeitweilig die Söhne in seinen Betrieb anstellte.
Nach dem Krieg beschränkte sich die Rolle von Richard Senst auf die des größten Arbeitgebers in der Gemeinde.
Am 26. Juli 1947, mit 57 Jahren, ist Richard Senst, genannt "Pfiffig", der für die Gemeinde so viel geleistet hatte, gestorben. Während eines Gewitters hatte er im Transformatorhaus in Roten Strumpf gearbeitet und wurde von einem Blitz getroffen.
Nach seinem Tod wurde die Firma als “Geschwister Senst, Sägewerk und Ziegelei” weitergeführt. Am 6. März 1953 wurde die Reetzer Ziegelei "volkseigen". Kurz zuvor war es seine Familie gelungen, aus der DDR zu flüchten. Der persönliche Besitz der Familie wurde beschlagnahmt und versteigert.
Im Juli 1933 trat Hans-Christoph von Werder im Kreise Zauch-Belzig die Nachfolge von Landrat von Bohne an. Zunächst war er „kommissarischer Landrat“; später wurde er als „stellvertretender Landrat“ bezeichnet. Dennoch führte er von Anfang an die Geschäfte des Kreises. Er war stolz darauf, „der erste nationalsozialistische Landrat“ im Kreise Zauch-Belzig zu sein.
Hans-Christoph von Werder wurde am 19. Dezember 1898 in Berlin geboren. Im Ersten Weltkrieg diente er als Offizier und geriet in französische Kriegsgefangenschaft. 1923 heiratete er Sophie-Charlotte von Willich aus Caputh. Ihr Sohn Hans wurde 1927 in Caputh geboren. Von Werder war staatlich geprüfter Landwirt.
Als einziger Stahlhelmführer des „Gaus Potsdam“ trat von Werder unter Einfluß des ehemaligen Hohenzollern Kronprinzen August Wilhelm am 1. Mai 1930 der NSDAP bei. August Wilhelm, der seit 1927 Mitglied des Stahlhelms gewesen war, war am 1. April 1930 in die NSDAP eingetreten. Nach eigenen Angaben war von Werder als „politischer Referent an höchster Stelle“ tätig und seit 1930 mit Adolf Hitler persönlich bekannt. Seine Ernennung zum stellvertretenden Landrat verdankte er dem Einfluß des ehemaligen Kronprinzen.
Die Amtsführung des neuen Landrats war gekennzeichnet von einer hohen persönlichen Präsenz in den Ortschaften des Kreises. Er war viel unterwegs und schien sich, wie man in den Seiten des Zauch-Belziger Kreisblatts lesen kann, zu allererst als oberster Propagandist der NSDAP im Kreise zu verstehen.
Schon bei einem seiner ersten öffentlichen Auftritte, bei der Fahnenweihe der SA in Wiesenburg, lobte er Adolf Hitlers „unablässigen Kampf gegen Deutschlands Verderber, Marxismus und Judentum...“ Deutschland würde „nur durch unseren Führer Adolf Hitler vom sichern Absturz gerettet. Aber noch ist nicht alles getan. Noch immer erheben schmutzige Widersacher ihr Haupt und gilt es, diese zu schlagen. Vernichtend! Entweder Adolf Hitlers Nationalsozialismus oder das Ende mit Schrecken: - Kommunismus und damit das Ende aller Kultur und Menschlichkeit. Daher muß heute jeder seine Meinung zurückstellen und sein unbegrenztes Vertrauen unserem Führer geben...Leben heißt Kampf! Wer den Kampf nicht scheut, wird leben.“ [Zauch-Belziger Kreisblatt, 15.8.1933]
Nur wenige Tage später, bei der Fahnenweihe in Reetzerhütten, meinte er, daß „der Nationalsozialismus Adolf Hitlers nicht nur einen Regierungswechsel bedeute, sondern daß sich damit eine neue Weltanschauung Geltung verschafft habe.“ [ZBK, 15.8.1933] Landrat von Werder sprach von der „harten Faust“, die der Nationalsozialismus „bedinge“ und erwähnte das Konzentrationslager in Oranienburg. [ZBK, 22.8.1933] Bei der Feier zum Jubiläum der Schlacht bei Hagelberg am 27. August 1933, empfahl er denen, die mit dem neuen Regime nicht einverstanden waren „das Essen in Oranienburg (KZ Sachsenhausen) zu probieren.“ So erinnerte sich Rudolf Röhr in seinen Memoiren. Paster Röhr bezeichnete von Werder als „das Großmaul Landrat“.
Bei der Feier im Landratsamt zur Einführung des neuen nationalsozialistischen preußischen Staatrates, lobte Landrat von Werder das Ereignis als „die völlige und endgültige Einsargung des alten Parlamentarismus und Liberalismus der vergangenen Zeitepoche.“ [ZBK, 16.9.1933]
Niemand im Kreise Zauch-Belzig kann sich also getäuscht haben, woher der Wind wehte und zum Einsatz welcher Mitteln der neue nationalsozialistische Staat bereit war. Auf dem Erntedankfest im Oktober 1933 in Belzig sagte von Werder, „Es gab manche, die sich uns in den Weg gestellt haben, ob es die Kommunisten, die Sozialdemokraten, die Demokraten oder die Reaktionäre waren. Sie sind es ja gerade, die heute noch nicht den Geist der Zeit verstehen, die es besser wissen, die uns so oft bekehren wollen...In einem Jahr gibt es in ganz Deutschland nur noch ganz wenige, die entweder im Konzentrationslager sitzen, oder die sich im Ausland befinden, die nicht hundertprozentig überzeugte Anhänger der NSDAP. sind.“ [ZBK, 1.10.1933]
Der Landrat konnte seinen „Führer“ nicht genug loben. „Der Führer allein hat es vermocht, das deutsche Volk in seinen weitesten Schichten zu einen. Er hat dem deutschen Volke die Ehre wiedergegeben und wird ihm auch Arbeit wiedergeben.“ [ZBK, 24.10.1933] Er sprach von Hitlers „Selbstlosigkeit und Größe“, [ZBK, 16.9.1933] von seinen „ehrlichen Absichten“ [ZBK, 11.9.1933] und nannte ihn schlicht und einfach den „Größten, der auf der Welt lebt.“ [ZBK, 1.10.1933] Seine Befehle, „zu kritisieren, ist Wahnwitz.“ [ZBK, 1.10.1933] Alle, ob SA-Mann, Kreisleiter oder Landrat, fühlen sich, „nur als Soldaten des Führers.“
Wenn den Zeitungsberichten irgendwelcher Glaube geschenkt werden darf, dann kam Landrat von Werder bei seinen Zuhörern gut an. Über eine Rede vom 18. Oktober bei einer öffentlichen Kundgebung für das Winterhilfswerk hieß es, „Wie allenthalben im Kreise gewann auch diesmal die freie und frische kraftvoll zupackende und echt männliche Art des Landrats die Herzen im Sturme.“ [ZBK, 23.10.1933]
In Hochform war der Landrat im „Wahlkampf“ November 1933. Es wurde ein neuer Reichstag „gewählt“, freilich mit einer nationalsozialistischen Einheitsliste, und gleichzeitig sollte über die Politik Adolf Hitlers abgestimmt werden. Von Werder war rastlos unterwegs, sprach oft auf Kundgebungen in zwei oder drei Ortschaften an einem Abend. Bekannt ist, daß er am 4. November in Alttöplitz war, am 6. in Fredersdorf und Lübnitz, am 8. in Kanin, am 9. in Michendorf und Langerwisch, am 10. in Mörz, Schalach und in Lotschke, wo er Zuhörer aus Mützdorf, Klepzig, Raben und Grubo hatte.
Am 6. November in Fredersdorf sagte der Landrat, „Viele wundern sich, daß ein Landrat den brauen Rock anziehe und allabendlich, auch Sonntags, in die Ortschaften fahre, wo doch für ihn das Büro der Arbeitsplatz wäre. Doch für ihn gäbe es keinen Unterschied; ob Parteigenosse, SA.-Mann, Amtswalter oder Landrat, alle ohne Ausnahme wären politische Soldaten, jeder muß seine Pflicht tun und Kämpfer für unsern Führer Adolf Hitler sein. Jede weitgehende Kritik und kleinlicher Hader haben in dieser ernsten Zeit zu unterblieben. Jeder prüfe sich selbst und arbeite an sich zuerst, um dem Vorbild unseres Führers nachzustreben. Denn wer könnte an ihm noch etwas auszusetzen haben? Er ist seit undenkbaren Zeiten der größte Deutsche und bestimmt auch für Jahrhunderte in die Zukunft hinein, das wird die Geschichte einst lehren.“ [ZBK, 8.11.1933] Derjenige, sagte von Werder, „der mit ‚Nein‘ wählt, [ist] ein Landesverräter. Gleichzustellen ist einem solchen Menschen auch der, der als Deutscher nicht zur Wahlurne geht. [ZBK, 8.11.1933]
Am 8. November, trat der Landrat in Kanin auf. „Gegen 21 Uhr betrat er den Saal und wurde mit stürmischen Heilrufen begrüßt.“ [ZBK, 8.11.1933] Er teilte seinen Zuhörern mit, „Die Geschichte wird nur von einzelnen Persönlichkeiten gemacht. Solche eine Persönlichkeit, die der ganzen Zeit ihr Gepräge gibt ist unser Volkskanzler Adolf Hitler...Es ist nicht zu spät und darf keinem Volksgenossen ehrenrührig erscheinen, wenn er sich erst jetzt zu dem Ideengut nationalsozialistischer Weltanschauung bekennt. Der Staat Adolf Hitlers wird erst gebaut. Sorge dafür, daß nicht die Schamröte ins Gesicht steigt, wenn dich deine Kinder und Enkelkinder später einmal fragen: ‘Vater, warst du auch dabei?‘“ [ZBK, 11.11.1933]
Am 9. November, Jahrestag des „Hitler-Putsches“ von 1923, sprach Landrat von Werder in Michendorf. Der Sonderberichterstatter des Zauch-Belziger Kreisblattes lobte den Landrat. „Das ist immer echtes Soldatentum: die Befehle des Vorgesetzten, des militärischen Führers, entgegenzunehmen und dann danach zu handeln. Diese Tatsache ersteht vor unsern Augen, wenn wir in diesen Tagen, wenn die Wähler Landrat von Werder Abend für Abend in zwei oder drei Versammlungen in der Gemeinden seines Kreises als Redner sehen, ihn, der immer wieder schlicht und einfach erklärt: ‘Auch als Landrat bin ich nur der Soldat Adolf Hitlers‘ So fährt der Führer des Kreises für seinen, für unseren Führer jeden Abend in zwei oder drei seiner ihm vom Führer anvertrauten Gemeinden, übergibt in überfüllten Versammlungen den Zuhörern die Befehle des Führers zum 12. November und kann – das wird ihm nicht nur die gestrige Versammlung gefragt haben – am 12. November nicht nur melden, daß er die Befehle weitergegeben hat, sondern daß diese Befehle mit einer Begeisterung, mit einem inneren, freudigen Gehorchenwollen aufgenommen worden sind, daß ein Zweifel über das Ergebnis am kommenden Sonntag in seinem Kreise nicht mehr bestehen kann... Treues, soldatisches Bekennen zum Führer ist am Sonntag im ganzen Volke die Parole... (ZBK, 10.11.1933)
„Das Jahr 1933,“ sagte Landrat von Werder, „wird in der Geschichte immer bestehen bleiben als das Jahr der deutschen Revolution.“ (ZBK, 10.11.1933.) Der Sonderberichterstatter schrieb weiter, „Landrat von Werder schilderte den gigantischen Kampf Hitlers, und ein Aufleuchten geht durch die Versammlung, Augen strahlen hoffnungsfroh, nehmen den Glanz siegesgewisser Hoffnung an, und in diesem Augenblick fühlt man es: Der Redner hat die Versammlung gepackt, hat die aufgerüttelt, hat ihnen den Weg gezeigt, den sie nun mit dem Führer zu gehen haben.“ (ZBK, 10.11.1933)
Der Landrat sagte, „Am 12. November lauscht der Führer auf die Stimme seines Volkes. Wir sind verpflichtet, ihn nicht zu täuschen. Der Tag soll ein Bekenntnis werden für den Führer.“ (ZBK, 10.11.1933) Die Kundgebung ging dann zu Ende. „Das Sieg-Heil auf den Führer, das die Versammlung dann begeistert ausbringt, ist mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis zu Adolf Hitler. Ergreifend, schwurhaft, die Hände nach oben gesteckt, ist es ihm und dem deutschen Volke. Das Horst-Wessel-Lied beschließt die machtvolle Kundgebung.“ (ZBK, 10.11.1933)
In seiner Sitzung am 25. Januar 1934 nahm der Kreisausschuß des Kreises Zauch-Belzig zur Frage der endgültigen Besetzung des Landratsamtes Stellung. Die Wahl fiel einstimmig und ohne Debatte auf Hans-Christoph von Werder.
Erst im April 1934 allerdings ernannte der preußische Ministerpräsident Hermann Göring von Werder zum Landrat. Dieser erklärte, er wolle das ihm anvertraute Amt, „auch weiter als politischer Soldat Adolf Hitlers“ führen. (ZBK, 16.4.1934)
Die Amtszeit des „braunen Landrats“ sollte aber denkbar kurz sein. Am 9. Juni 1934 im Zauch-Belziger Kreisblatt und am 12. Juni 1934 in der Belzig-Reetz-Wiesenburger Zeitung erschien einen Beitrag vom dem neuen Landrat mit der Überschrift, „Achtung!
Gerüchtemacher auch im Kreise Zauch-Belzig. Ein ernstes und deutliches Wort des Landrats Pg. v. Werder“.
Er müsse feststellen, schrieb von Werder unter anderem, „daß auch hier im Kreise Gerüchtemacher und politische Brunnenvergifter verschiedenster Richtung am Werke sind. Ich beobachte die Entwicklung mit großer Ruhe und werde dann eingreifen, wenn es das Ansehen der NSDAP. und des nationalsozialistischen Staates erfordert. Der Augenblick hierzu scheint allerdings bald gekommen zu sein. Ich warne hierdurch ausdrücklich alle Gerüchtemacher und vor allen Dingen die Dummen, die nie alle werden und jeden Unsinn glauben...Auch wenn ich an alle Gerüchte, die hier im Kreise umlaufen, den richtigen Maßstab anlege; muß ich feststellen, daß System in der Gerüchtemacherei liegt und daß diese Art der Gerüchtemacherei unter keinen Umständen weiter geduldet werden kann...Die Sache und meine Pflicht muß mir über die Person gehen, und Feinde des nationalsozialistischen Staates werde ich, wann und wo das große Erziehungswerk des NSDAP. und ihrer Gliederungen nicht ausreichend wirkt, zum Schutz von Volk und Staat unschädlich machen.“
Die Worte klangen bedrohlich, doch der normale Zeitungsleser wird sich wohl daraus kaum einen Reim machen können. Innerhalb der NSDAP aber wurde von Werders Beitrag kritisch gelesen. Der Gauinspekteur des Kreises Zauch-Belzig, Landrat von Hirz aus Juterbog, schickte den Beitrag an den Gauleiter des Gaues Kurmark, Wilhelm Kube. Kube wendete sich wiederum an den Stellvertreter Hitlers, den „Sehr verehrter lieber Herr Parteigenosse Reichsminister Heß!“
„Durch die Verwendung Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen August Wilhelm von Hohenzollern ist der persönliche Freund Seiner Königlichen Hoheit Herr v. Werder Landrat im Kreise Zauch-Belzig. Hier steht er mit dem Parteigenosse Tittmann, dem zuständigen Kreisleiter im schärfsten Gegensatz...Als Gauleiter bitte ich Sie, mir Anweisung zu geben, wie ich mich derartigen Taktlosigkeiten gegenüber (bei persönlicher Verbundenheit mit dem Hohenzollern-Hause) verhalten soll. Nach meinem Empfinden haben Nationalsozialisten derartige Dinge nicht in der Presse zu veröffentlichen. Bei den hohen Beziehungen des Herrn v. Werder in der Partei möchte ich mein Ansehen als alter Gauleiter nicht aufs Spiel setzen, da ich bei einem eventuellen Vorgehen gegen Herrn v. Werder mir eine Rektifizierung zuziehe.“
Es ging wohl um einen innerparteilichen Machtkampf, der heute wahrscheinlich nicht mehr nachzuvollziehen ist, der aber für den Landrat von Werder als der Verlierer ausging.
Am 20. Juni schickte der Stellvertreter des Führers das Schreiben von Kube samt Anlage an den Obersten Parteigericht, München, Gabelsbergerstr. 33 Dort ging das Schreiben am 22.6.1934 ein. Der „Oberster Parteirichter“ Walter Buch schrieb an Kube,
„Auch ich halte die Veröffentlichung solcher Aufsätze nicht für notwendig. Ich sehe darin vor allem eine unangebrachte Selbstbeweihräucherung, entsprungen aus einer nicht zu leugnenden Eitelkeit; beides Begriffe, die wir Nationalsozialisten ablehnen. Trotzdem finde ich keinen Anlass zu parteigerichtlichem Einschreiten. Das hiesse m. E. mit Kanonen gegen Spatzen schiessen. Wir finden doch überall kleine Sperlinge, die ihrer Unscheinbarkeit wegen sich durch Geschrei zur Geltung bringen müssen. Sonst merkt ja niemand, dass sie überhaupt da sind. Ich kann in dem gerügten Aufsatz nur einen Schönheitsfehler sehen, der einen anderen Geschmack verrät. Ihn ernst zu nehmen, wäre ihm zuviel Ehre erweisen. Bei Ihrem vorbildlichen Witz muss es Ihnen doch eine leichtes sein, den wichtigtuenden Gernegross gelegentlich mit einem passenden Wort in die Schranken zu weisen.“
Mitte des Jahres war Hans-Christoph von Werder nicht mehr im Amt. Die letzte veröffentlichte Amtliche Mitteilung, die den Namen von Werders als Landrat trägt, war der 27. Juni 1934. Danach wurde er in der staatlich gelenkten Presse nicht wieder erwähnt, weder gab es eine Erklärung, warum er aus dem Amt geschieden war, noch daß er überhaupt ausgeschieden war. Mitte Dezember berichtete die Belzig-Reetz-Wiesenburger Zeitung über den Nachfolger, der Landrat des Kreises Flatow „Pg. Dr. Böge“ und schrieb weiter: „Der Kreis Zauch-Belzig ist bereits seit längerer Zeit ohne Landrat.“ Böge wurde am 2. Januar 1935 im Gegenwart der Kreisleitung der NSDAP in sein Amt eingeführt. Pastor Rudolf Röhr schrieb in seinen Memoiren, Warum bin ich solange im Fläming geblieben?,
„Und der ‘braune Landrat‘? Übrigens regierte der erste NS-Landrat von Belzig nicht lange. Er hatte so viele Schulden, daß der Milchverkaufswagen nicht mehr vor seinem Haus hielt. Dr. von Tschirschky hatte einmal, als er in der beschwerlichen Heuernte abends um 11 Uhr die Gliener Feuerwehr probeweise alarmieren sollte, diesen angetrunkenen Landrat vom Hof geworfen. In Lehnin soll von Werder Mädchen des Maidenlagers in ein Lokal bestellt und volle Sektflaschen durch die Fensterscheiben nach den Passanten geworfen haben. Seine Eltern aus Caputh kauften eine Schiffskarte und verfrachteten ihn von Hamburg aus in die USA. Der Spuk war aus! Eine von den vielen verkrachten Existenzen, die in der neuen politischen Richtung für sich Morgenluft witterten, war verschwunden.“
Wenn das alles so stimmt, dann blieb Hans-Christoph von Werder nicht in den USA. Aus der Meldekartei ist zu entnehmen, daß Hans-Christian von Werder am 17.April 1937 von Potsdam, Augustastr. 1 nach Caputh gezogen ist. Im September 1942 wohnte er in Berlin, Burggrafenstraße 6.
In einem im Bundesarchiv aufbewahrten Schreiben des Gauschatzmeisters der Gauleitung Berlin, De Mars, an die Reichsleitung der NSDAP vom 14. Juni 1944 kann man lesen: „Werder, Hans Christoph von, Mitgl. Nr. 242 962 (durch Feindeinwirkung)“. Ist der ehemalige Landrat durch alliierten Bomben ums Leben gekommen?
Das Glück währte aber nicht lange. Am 24. August kam der Dorfpolizist zu seinem Vater, Franz Wernicke, um ihm mitzuteilen, daß er sich am darauffolgenden Tag in Belzig zu melden hatte. Der ältere Wernicke, der bis Oktober 1933 Reetzer Bürgermeister gewesen war, hatte bis Kriegsende als Ortsbauernführer gedient. In dieser Eigenschaft mußte er unter anderem beim Streit zwischen den Reetzern und den Zwangsarbeitern, die im Dorf eingesetzt waren, schlichten. Zu dem Fall von einem Reetzer, der gleich nach Kriegsende wegen Mißhandlung eines polnischen Arbeiters festgenommen worden war, sollte er eine Aussage machen.
Franz Wernicke zog seinen Sonntagsanzug an und, begleitet vom Reetzer Dorfpolizisten, fuhr er mit dem Rad nach Belzig. Der Polizist, entsprechend seinen Anweisungen, lieferte Wernicke bei einer sowjetischen Dienststelle ab und kehrte nach Reetz zurück. Franz Wernicke kam nie wieder nach Hause.
Es hieß, erfuhr die Familie durch informellen Kontakt zu einem sowjetischen Offizier, er hätte sich bei dem Verhör selbst belastet. Ein anderer Reetzer, der ebenfalls interniert war, konnte der Familie sagen, daß Franz Wernicke am 6. Januar 1946 im Lager Ketschendorf starb. Das erfuhr die Familie allerdings erst Jahre später. Eine amtliche Bestätigung seines Todes erhielt die Familie nie.
Nun stand Alfred Wernicke alleine da mit dem großen Hof. Der junge Landwirt, der 1942 mit 18 Jahren zur Wehrmacht eingezogen worden war, hatte wenig Erfahrung in der Leitung eines Betriebes. Durch die Hilfe seines Onkels Ewald Friedrich war er allerdings nach wenigen Monaten in der Lage dazu.
Eines Tages machte er eine Bekanntschaft, die den Rest seines Lebens bestimmen sollte. Er unterschrieb einen Vertrag, Saatkartoffel an eine Genossenschaft zu liefern. Dadurch kam er ins Gespräch mit einem Vertreter dieser Genossenschaft. Sie besprachen die aktuellen Lage, die Tatsache, daß Wernickes Vater vermißt war und daß sie beide mit der gegenwärtigen politischen Situation nicht zufrieden waren.
Der neue Bekannter offenbarte Wernicke, er wäre Mitglied einer illegalen Gruppe, die gegen die Sowjets arbeiten wollte. Es war eine kleine Gruppe ehemaliger Offiziere und Offiziersanwärter, die sich die Aufgabe gestellt hatten, für den Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und der USA, Partisanen- und Widerstandgruppen zu bilden. Diese Widerstandsgruppe stand unter der Leitung eines in Berlin lebenden ehemaligen höheren deutschen Offiziers.
Alfred Wernicke schloß sich dieser Gruppe an. „Es war so gedacht, daß im Falle eines Krieges Fallschirmstruppen landen sollten. Und zwar sollte ich Stellen auskundschaften, die geeignet wären für Fallschirmspringer. Ich hatte nur den Auftrag, mich nach den militärischen Verhältnissen in Alten Grabow zu erkundigen. Ich bin nie dazu gekommen.“
Der Führer der Gruppe in der Brandtsheide war ein Lehrer in Wiesenburg. Alfred Wernicke war zu der Überzeugung gekommen, wollte er seinen Vater lebend wiedersehen, mußte er in einer solchen Gruppe mitmachen.
1948 kam aber dann die Nachricht, der Führer der Gruppe wäre mitten in der Nacht von einem sowjetischen Auto abgeholt worden. Ohne den Führer löste sich die Gruppe auf. Doch Wernicke suchte in Wiesenburg einen Mann auf, der dazu gehörte, ein ehemaliger Oberleutnant der Fallschirmjäger, um darüber zu sprechen, wie es weitergehen sollte. Dieser war sichtlich schockiert, als er Wernicke sah und riet von jedem weiteren Treffen ab.
Alfred Wernicke: „Uns war klar, wir sind in Gefahr. Wenn er [der verhaftete Führer der Gruppe] unsere Namen nennt, dann sind wir geliefert. Ich habe mich auf die Flucht vorbereitet. Ich hatte Kompaß und Karten, Gummistiefel und warme Sachen bereitgestellt und ich war bewaffnet. Das lag alles griffbereit neben meinem Bett. Wenn die vorne hereingekommen wären dann wäre ich hinten raus und weg in den Wald. Nichts ist passiert. Ich habe mich beruhigt.“
Man hatte Alfred Wernicke aber nicht vergessen. Am 24. November 1950, um genau 13 Uhr 30, kam er zum Mittagessen in die Küche. Zwei Männer, die sich mit Marken der deutschen Kriminalpolizei auswiesen, betraten die Küche und fragten, ob er Alfred Wernicke sei. In einem schwarzen Opel fuhren sie mit ihm davon. Ein Vertreter für landwirtschaftliche Geräte, der die Wernickes gerade aufgesucht hatte, notierte das Autokennzeichen.
Bei der Festnahme hatte Alfred Wernicke zwei komprimierende Dokumente in seiner Brieftasche. Das erste war ein Exemplar des Telegraf, einer sozialdemokratischen Zeitung in Kleinformat, gedruckt in West Berlin für die Ostzone. Schlimmer noch, er hatte einen Brief von einem Mann, den er im Kriegsgefangenenlager kennengelernt hatte, in dem nach einer Maschinenpistole gefragt wurde, die sie zusammen versteckt hatten, nie aber hatten abholen können, als sie aus der Gefangenschaft geflohen waren. Der Briefschreiber war allerdings inzwischen bei der Volkspolizei in Mecklenburg.
Zwei Tage vor der Festnahme war Wernicke in West Berlin gewesen, um von Rainer Hildebrandt Flugblätter abzuholen. Sie hatten über den Brief diskutiert und waren zu dem Schluß gekommen, es könnte sich um eine Drohung handeln.
Zunächst brachte man Alfred Wernicke nach Belzig. Von dort ging es nach Brandenburg, Polizeirevier Nr. 1. Alfred Wernicke erinnerte sich: „Einen Gang entlang, dann um die Ecke, noch mal ein langer Gang, wieder um die Ecke, noch mal ein langer Gang, war es ganz am Ende, im letzten Zimmer. Ich gehe da rein. Sie machten die Tür zu. Da sitzt ein Russe. Er sagte, kommen Sie näher. Da war ein Dolmetscher dabei, der war ein Pole, der Deutsch und Russisch sprach. Der Russe sagte immer wieder, kommen Sie, kommen Sie näher. Und dann sah ich die kyrillischen Buchstaben und dachte, ach, du Schande. Jetzt haben sie dich gekriegt. Jetzt sitzt du bei den Russen. Und das war ein Gefühl. Und dann haben sie mich verhört.“
Wernicke wurde konfrontiert mit dem Brief über die Maschinenpistole, die er versteckt aber nie abgeholt hatte, samt russischer Übersetzung. Immer wieder wurde er nach dem Verbleib der Maschinenpistole befragt. Er konnte ehrlich antworten, daß er es nicht wußte. Sie wußten nicht, weil das Haus nicht durchsucht wurde, daß er aber tatsächlich eine Maschinenpistole und auch eine Pistole hatte.
Nach fünf Tagen wurde Wernicke nach Potsdam gebracht, Lindenstraße 10, wo er bis Mai blieb. Später schrieb er über diese Zeit:
“Da war das grelle Licht der großen, starken elektrischen Birne, unerreichbar hoch oben an der Zellendecke, die Tag und Nacht brannte. Das Zellenfenster hatte eine Blende. Es ließ so wenig Tageslicht in die Zelle fallen, daß ich zeitweise nicht wußte ob es Tag oder Nacht war. Während dieser Zeit war ich in Einzelhaft. Bei meiner Verhaftung trug ich einen dünnen Arbeitsanzug, da ich gerade dabei gewesen war, meinen Trecker zu reparieren. Die Zelle war abwechselnd eisig kalt und dann wieder stark überheizt. Der Raum, in dem die nächtlichen Verhöre stattfanden, war immer eisig kalt. Die Vernehmungsoffiziere trugen dicke, warme Mäntel, während ich auf einem am Fußboden festgeschraubten Schemel in der kältesten Ecke des Raumes an einem zugigen vergitterten Fenster stundenlang sitzen mußte... Die einzigen Menschen, die mit mir sprachen waren die Vernehmungsoffiziere und die wechselten ständig. Ich hatte im ganzen fünf dieser MKGB-Typen zu ertragen. Von den sowjetischen Bewachern hörte ich immer nur: ‘Komm. Hände auf Rücken. Gesicht zur Wand.‘ Und mit einem unwahrscheinlich drohenden wirkenden ‘Dawai, dawai!‘ Trotz der zermürbenden Verhöre, die oft mehrere Nächte hintereinander stattfanden, war es streng verboten, sich am Tage hinzulegen und man durfte auf den Pritschen nicht sitzen. Die auf den mit Teppich belegten Fluren lautlos heranschleichenden Bewacher sorgten dafür, daß wir nicht zur Ruhe kamen.“
Schon am 27. November hatten sich zehn Reetzer Mitglieder der DBD an ihre Landesleitung gewendet mit der Bitte, diese solle, “sich an zuständiger Stelle für die Aufklärung der Festnahme und seine Freilassung einsetzen.“ Es hieß weiter, “Die Festnahme des Landwirts Wernicke und die Ungewißheit seines Verbleibs sind der Reetzer Bevölkerung völlig unverständlich, da hier über ihn nichts Nachteiliges bekannt ist.“
Die meisten Reetzer gingen davon aus, Wernicke wäre wegen der Verteilung von Flugblättern festgenommen worden. Am 15. Oktober fanden die ersten Wahlen zur Volkskammer, Landtagen und Gemeindevertretungen seit der Gründung der DDR statt und es wurde nach Einheitslisten gewählt werden. In der Nacht vor der Wahl hatte Alfred Wernicke mit der Hilfe von einem, der bei ihm auf dem Hof arbeitete, nachts Flugblätter an alle Reetzer Haushalte verteilt, Flugblätter, die er zwei Tage vorher in West Berlin bei dem Treffen mit Rainer Hildebrandt abgeholt hatte.
Auf dem Platz der Einheit hatte er einen Haufen kleiner Zettel geworfen. Darauf hatte Stalin seinen Stiefel im Genick eines Mannes, der am Boden liegt. Bei den politisch Verantwortlichen im Dorfe hatte er schließlich eine politische Broschüre über “Wahlbetrug und Wahlmanöver in der Ostzone“ hinterlassen.
Wernicke ging davon aus, daß seine Beteiligung an der Aktion geheim geblieben war. Lediglich ein Freund, einer der Unterzeichner des DBD-Briefes, hatte vorher gewußt, was Wernicke vorhatte, und ihm davon abgeraten. Erst nach dem Zusammenbruch der DDR erfuhr Wernicke, daß praktisch das ganze Dorf Bescheid wußte, aber dichtgehalten hatte. Die Reetzer, auch die neue sozialistische Führung, hatte so konsequent geschwiegen, daß von der Aktion die sowjetischen Behörden nie etwas erfahren haben und sie war nicht der Grund für seine Verhaftung.
Später, beim Weihnachtsputz, entdeckten Mutter und Frau auf den Schränken im Wohn- und im Eßzimmer ganze Stapel der Flugblätter. Sie wurden schnell beseitigt. Siglinde Wernicke versteckte die Pistole in der Dreschmaschine. Die Maschinenpistole war hinter dem Backofen versteckt. Heute ist der verrostete Rest davon im Besitz von Wernickes Sohn.
In der Zeit hatte seine Frau Siglinde ihre eigene Geschichte erlebt. Am Tag nach der Festnahme ihres Mannes fuhr sie zur Polizei in Belzig. Sie fragte nach der Autonummer, wo sie registriert sei und wem der Wagen gehörte. Niemand dort konnte ihr eine Auskunft geben. Man schickte sie zu einer anderen Dienststelle. Dort, wo ihr Mann zunächst festgehalten worden war, traf sie zufällig den Mann, der ihren Mann festgenommen hatte.
„Ich habe ihn natürlich sofort wiedererkannt und habe ihn praktisch angesprungen und sagte ganz laut, ‘Sie sind doch derjenige, der meinen Mann gestern abgeholt hat mit dem Auto.‘ Er guckte mich ganz entgeistert an, denn der Raum war voll von Schreibkräften, und sagte, kommen Sie mit in mein Büro. Dann hat er mir erzählt, daß man in solchen Fällen, die irgendwelche politischen Sachen sind, auch sie keinerlei Auskünfte kriegen und er weiß von keiner Verhaftung was, offiziell. Und das stimmt alles nicht und er wäre nicht die Person und so weiter. Und dann sagte er ganz zum Schluß, wissen Sie, ich war ja im Kriege selber, im KZ, und ich weiß wie in solchen Fällen vorgegangen wird und mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Damit wollte er mir zu verstehen geben, daß er nicht sagen konnte oder durfte, daß es eben was Politisches war.“
Siglinde Wernicke blieb allein mit ihren drei Kindern und ihrer Schwiegermutter. Das Stadtkind aus Berlin mußte die Schweine füttern, die Kühe melken, und die Pferde versorgen. Sie hätte die Betriebsleitung übernehmen müssen. Das konnte sie nicht. Als wäre das nicht genug gewesen, hatte ihr ältester Sohn, Werner, eine Wirbelsäulenverkrümmung und mußte mehrmals die Woche zum orthopädischen Turnen in Belzig. Während der Woche blieb er bei Verwandten in Belzig. Freitags holte seine Mutter ihn ab und schickte ihn dann montags mit einem Postauto zurück.
Siglinde Wernicke: „Und dann fiel mir auf, daß ich jedes Mal, wenn ich auf dem Bahnhof in Wiesenburg war, kontrolliert wurde. Immer mußte ich meine Fahrkarte zeigen wo ich hinfahre und meinen Personalausweis. Die anderen Wartenden am Bahnsteig haben sie nicht kontrolliert, mich haben sie jedesmal. Dann wurde das allmählich immer brenzliger. Wenn ich jetzt auch noch verhaftet werde, dann haben die Kinder überhaupt keine Eltern mehr.“
Im Januar 1951 beschloß Siglinde Wernicke nach Berlin zu ziehen. Ihre Mutter kam und fuhr mit den beiden jüngeren Söhnen, Edmund und Joachim, nach Berlin, was sie schon öfter gemacht hatte, und daher nicht auffiel. Der Kinderwagen wurde mit Federbetten gefüllt.
Mit dem ältesten Sohn blieb Siglinde Wernicke noch etwa eine Woche in Reetz und bereitete sich auf die Flucht vor. Lediglich die Schwiegermutter wußte, wann sie fliehen wollte.
„Von Reetz nach Belzig, da fuhr ein Postauto. Das holte immer die Post und es konnten immer zwei, drei Personen mitfahren. Mit dem Postauto bin ich mitgefahren, damit ich nicht wieder auf dem Bahnsteig mußte und kontrolliert wurde. Dann bin ich in Belzig umgestiegen in einen Linienbus, der nach Potsdam fuhr.“
In Potsdam ging sie zu Pfarrer Karl Manoury von der französischen Gemeinde, der von 1925 bis 1931 Pastor in Reetz gewesen war. Dort hatte ihre Schwägerin, die Schwester von ihrem Mann, ein paar große Koffer mit eingeweckten Gläsern deponiert. Sie war dabei, nach Reetz umzuziehen und hatte zu viel Eingewecktes. Die Koffer sollten für die Familie Siglinde Wernickes in West Berlin sein.
„Mein Vater kam aus Berlin und wir haben uns getroffen bei dem Pfarrer. Mein Vater hat die Koffer genommen und ich bloß den Jungen an der Hand und meine Handtasche. Ich hatte fünf oder sechs Kleider übereinander, aber sonst nichts, gar nichts, absolut nichts. Dann sind wir zur S-Bahn gefahren und als der Zug ankam, da ging mein Vater durch die Sperre und da war gleich ein Kontrolleur. Er solle den Koffer aufmachen. Ein riesen Tamtam, ein Riesentheater. Und während er beschäftigt war mit meinem Vater, bin ich durch spaziert und rein in die S-Bahn und weg war ich.“
Am 21. März 1951 wurde Alfred Wernicke von einem sowjetischen Militärtribunal und zwar vor dem Gericht der Weißrussischen Sowjetischen Republik zu 25 Jahren Arbeitslager mit Enteignungsbeschlagnahme wegen Spionage und Vorbereitung zum Aufstand verurteilt.
Dabei hatte die Familie in einem Punkt Glück im Unglück. Nach der Verhaftung hatte sich bald die Frage gestellt, was aus dem Hof werden sollte, jetzt, da Vater und Sohn weg waren. Es wurde entschieden, alles der 17 Jahre älterer Schwester von Alfred Wernicke zu überschreiben. Zunächst hatte seine Mutter den Wald für ihren Sohn behalten wollen. Doch als der Schwiegersohn auf allem bestand, gab sie nach. Dadurch wurde der Familie der Wald gerettet.
Im Mai 1951 wurde Alfred Wernicke ins Zuchthaus Bautzen verlegt. Erst am 12. Juni 1951 durfte der Häftling Nummer 892 einen Brief an seine Frau schreiben und sie von seiner Verurteilung unterrichten. Siglinde Wernicke war 23 Jahre alt und stand nun mit drei kleinen Kindern alleine da.
In Bautzen traf Alfred Wernicke den Lehrer aus Wiesenburg, den Führer der Widerstandsgruppe. Von ihm erfuhr er, daß der ehemalige Offizier in Wiesenburg ein Spitzel gewesen war und daß die Gruppe von Anfang an unterwandert worden war.
Etwa ein Jahr blieb Siglinde Wernicke bei ihren Eltern. Sie wohnten direkt an einer S-Bahn Strecke, an der sowjetischen Posten patrouillierten.
„Ich kam mal nach Hause von einem Mütterkreis von der Kirche und da stand ein fremder Mann vor der Tür. Ich habe ihn von weiten gesehen, weil ich über die Brücke mußte. Da bin ich stehengeblieben bis der Mann vor der Tür weggegangen ist. Da hatte ich irgendwie ein komisches Gefühl, als ob er auf mich warten würde. Als ich nach Hause kam, sagte meine Mutter, um Gottes Willen, gut daß du jetzt erst kommst. Da war gerade einer hier und hat nach dir gefragt. Er hat aber nicht gesagt, was er wollte. Dann haben wir so eine Angst gekriegt, daß meine Eltern alles zusammengekratzt haben was wir an Geld hatten, jeden Pfennig, und haben mich ins Flugzeug gesetzt und haben, mich nach Flensburg geschickt zu einem Verwandten.“
Am 2. Februar 1953 wurde Alfred Wernicke nach Brandenburg-Görden verlegt.
„Das war die Hölle. In Bautzen, da waren 40% der Leute Tbc-krank, das war ein Fakt. Aber die Leute, die Polizisten, die Wärter, die waren menschlich, nicht immer, aber wo ich da war habe ich von denen nichts schlechtes erfahren. Wenn eine Decke kaputt war, kriegte man eine neue Decke, aber hier in Brandenburg, da haben sie mich in eine Zelle gesperrt mit 16 Mann und da war ein Bett frei, das war oben an einem Fenster und das war immer offen weil die alle Angst hatten vor Tbc. Da habe ich da oben diese Pritsche gekriegt und zwei Decken, eine war geflickt, die andere hatte Löcher. Wir mußten raus, früh Vormittags Übung machen, eins, zwei, drei und so. Und da denke ich, du hast bestimmt Muskelkater.“
Es war aber nicht Muskelkater. Ein anderer Gefangener, ein Sanitäter, diagnostizierte eine Rippenfellentzündung und riet Wernicke, sich sofort beim Arzt zu melden. Doch die Wächter ließen ihn nicht zum Arzt. Bei einer Reihenuntersuchung wurde die Krankheit dann doch entdeckt. Der Arzt flüsterte Wernicke zu, „Diese Verbrecher“, und schickte ihn ins Krankenhaus.
Schwerkrank schrieb Alfred Wernicke seiner Frau einen Abschiedsbrief und riet ihr, falls er nicht zurückkommen könnte, zu Tante Paula zu ziehen. Tante Paula lebte in Brasilien. Siglinde Wernicke verstand es als den Hinweis; sie sollte auswandern. Sie beantragte aber die Einreise in die USA. Brasilien schien ihr zu riskant zu sein und Englisch konnte sie aus der Schule.
Alfred Wernicke wurde für arbeitsunfähig erklärt und immer noch schwer krank am 15. Januar 1954 aus der Haft entlassen. Er zog zu seiner Familie nach Flensburg und kam zunächst in eine Heilstätte, um seine nicht kurierte Rippenfellentzündung behandeln zu lassen. Auf eigenen Wunsch wurde er aber vorzeitig entlassen, weil er sich an der höheren Landbauschule in Schleswig angemeldet hatte. Er ließ sich zum Agraringenieur ausbilden und fand anschließend eine gute Anstellung bei einer Agrarfirma. Sein Gesundheitszustand war aber noch nicht stabil, die Arbeit war körperlich schwer. Er erkrankte ein zweites Mal an einer Rippenfellentzündung und wurde arbeitsunfähig.
1957 ist die Familie Wernicke dann mit dem Schiff „General W.C. Langfitt“, einem amerikanischen „Liberty Ship“ in die USA gefahren. Es war der letzte Truppentransporter, der deutsche Auswanderer nach Amerika brachte.
Drei Jahre lebte die Familie in Quincy im Bundesstaat Massachusetts. Siglinde Wernicke fand zunächst Arbeit in einer Wäscherei für 99 Cents die Stunde. Alfred Wernicke, der bei der Ankunft in Amerika kein Wort Englisch sprach, fand Arbeit als Hilfsarbeiter im Bau, lernte aber schnell und bekam ein Angebot auf den Jungferninseln im Baugewerbe zu arbeiten. Im Oktober 1960 zog die Familie auf die Insel St. Thomas. Dort baute Alfred Wernicke ein Haus für seine Familie.
Von 1972 bis 1980 war die Familie in Deutschland. Alfred Wernicke brauchte eine gründliche ärztliche Betreuung, die es auf der Insel nicht gab. Er hatte gesundheitliche Probleme, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf seine Haftzeit zurückzuführen waren. 1985 kehrten Alfred und Siglinde Wernicke dann endgültig nach West Berlin zurück.
Bis 1989 wurde Wernicke von der DDR- und der sowjetischen Sicherheit beobachtet.
Alfred Wernicke starb am.15. März 2000.
John Shreve: Reetz. Ein Dorf in der Brandtsheide 1861 - 1961 (1998)
"Ein Amerikaner kommt 1968 nach Deutschland, studiert an den Universitäten Marburg und Berlin Deutsch und Geschichte, erwirbt gar den Doktortitel, findet eine Frau, die aus Reetz, dem Dorf in der Brandtsheide, stammt, gründet eine Familie (zwei Kinder) und findet Zugang zu den Fläming-Bewohnern, die er ebenso achtet und verehrt wie seine Ehefrau Christiane. Die Reetzer Gespräche bei Schwiegereltern, Freunden und Ortskundigen machen ihn neugierig, und er fragt weiter nach, erhält Antworten, findet die große Weltgeschichte hier im Kleinen wieder. Es begegnen ihm auch verschlossene Leute, die über alles Gewesene nicht reden wollen. So bleibt manche Frage unbeantwortet.
Es entsteht eine Chronik von Reetz, die er durch die Mithilfe vieler wie ein Mosaik zusammensetzt. Er wendet Tausende von Stunden neben seiner Arbeit auf, um die Details in Bibliotheken und Archiven in Berlin, Potsdam und Brandenburg, in alten Zeitungen, Briefen, Diktatheften und Reetzer Protokollen zu finden. Umfangreicher als alle Chroniken, die in der Region in den letzten Jahren erschienen sind, präsentiert sich uns die Reetzer Geschichte. John Shreve spricht Themen an, über die in den letzten Jahrzehnten kaum geredet wurde, die aber zum Verständnis der Ereignisse unseres dramatischen Jahrhunderts von Wichtigkeit sind. Für Ortschronisten ist das Buch die Demonstration einer Methode der Heimatforschung, die vor allem die Menschen einbezieht, die dort gelebt und erlebt haben. Ihnen sei gedankt, dass sie mit Erinnerungen und Dokumenten an dem Buch mitgearbeitet haben.
Mögen die nächsten Generationen darin Antworten finden auf ihre Frage, warum alles das geschehen konnte. Und mögen sie daraus erkennen, dass sich Unmenschliches und Machtmissbrauch nie wiederholen darf. Mögen sie aber auch aus den Versuchen, das Leben auf dem Dorf mitzugestalten, Anregungen erhalten. Wir wünschen dem Buch eine freundliche Aufnahme und danken dem Autor John Shreve für seine unermüdlich Arbeit."
Helga Kästner im April 1998
return to top